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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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überzogen und scheint durch die Wolken am Himmel über dem Festland. Alles wird plastisch unter diesem Licht, nicht nur die grauen Formationen der Trockenmauern, sogar das Gras unter ihren Füßen. Am höchsten Punkt der Insel dreht sie sich einmal um 360 Grad. Aus jeder Richtung hört sie das Meer. Sie sind vom Land abgeschnitten, die bloße Gezeiteninsel ist bis auf Weiteres eine vollgültige Insel.
    Vor ihr, das weiß sie von früher, liegt ein Überhang, wo es steil in die Tiefe geht. Erst weiter unten kommt eine sandige Böschung. Auch wenn seit ihrem letzten Besuch zehn Jahre vergangen sind, sie hat die Topographie der Insel noch genau im Kopf, manches ist eben wie eingebrannt. Allein indem sie hier entlanggeht oder von oben auf die umliegende Landschaft blickt, kann sie jedes Detail abrufen, als läge eine Landkarte vor ihr.
    Direkt unter ihr der See, eine schwarze lichtlose Fläche, die einzige unter diesem Mond. Sie tastet sich bis an die Uferkante vor und bemerkt selber, wie vorsichtig sie dabei vorgeht. Nicht so wie sonst, wenn sie vermutlich gleich auf die Sandböschung gesprungen wäre. Trotzdem sinkt sie sofort ein, und Sand rieselt in ihre Schuhe.
    Sie spürt den See, ehe sie ihn sieht, allein an dem schwammigen Boden mit allerlei stachligen Marschgewächsen, die an ihrer Jeans kratzen. Am Ufer zieht sie die Schuhe aus und rollt die Hose hoch. Das Wasser ist ein Schock, so herrlich kalt, dass es ihr die Haut zusammenzieht. Langsam stakst sie über den kiesigen Grund.
    Irgendwann steht sie bis zu den Knien im Wasser. Der Himmel über ihr ist blauschwarz, manchmal auch purpurschwarz, brombeerschwarz und von einem Glanz, den man anderswo vergebens sucht, sogar im intimen Gebärmutterlicht von Evelyns Dunkelkammer oder den Tausenden von Negativen, über denen sie dort saß.
    Aoife fasst sich an den Bauch. Komisch, dass man sich so allein fühlen kann, wenn man es gar nicht mehr ist. Aber in ihr schlägt ein zweites Herz. Sie drückt fester auf ihre Bauchdecke. Sie hat Schmetterlinge im Bauch. Seltsames Wort in diesem Zusammenhang, aber es trifft es genau. In irgendeinem verborgenen Winkel entfalten sich winzige Flügel. Aoife hat es schon lange aufgegeben, über den Grund für bestimmte Dinge nachzusinnen. Gründe sind jetzt egal, sie nutzen ihr gar nichts. Was geschehen soll, soll geschehen, sogar wenn es keinen Grund dafür gibt. Aber das hier ist etwas anderes. Ausgerechnet jetzt, da sich so viele von ihr abwenden, meldet sich etwas Neues an. Wie kann das sein?
    Sie hat diesen Gedanken noch nicht verarbeitet, da regt sich etwas im Wasser. Etwas durchbricht den schwarzen Spiegel, ein muskulöser Rücken mit glänzendem Fell. Sie weicht zurück, stolpert, stößt mit dem Zeh gegen einen scharfkantigen Stein und gibt einen leisen Schmerzensschrei von sich. Dann ist alles wieder, wie es war, der schwarze Spiegel unbewegt. Aoife schaut rechts und links, sucht nach dem leisesten Plätschern, der kleinsten Wasserbewegung, aber nichts. Was war das für ein Tier, und wo ist es jetzt?
    Dann ein lautes Platschen und eine Wallung im Wasser – wo? Ihr Kopf fährt herum, sie will einen Blick auf das Wesen erwischen, ehe es weg ist. Und bloß nicht an die schaurigen Märchen ihrer Mutter denken, an Selchies, Wassergeister und Nixen, die Seeleute in ihr nasses Grab ziehen. Aber sie fragt sich schon, ob jemand sie hier hört, falls etwas passiert. Allerhöchstens Michael Francis. Er käme ihr immer zu Hilfe. Käme er diesmal denn auch rechtzeitig?
    Dann sieht sie es, gerade einmal einen Meter vor ihr. Ein Kopf erhebt sich aus dem Wasser und guckt sie an. Runde Stirn, nasses Fell, lange abstehende Barthaare, zwei große dunkle Augen. Ein Hund, sagt sie sich, nur ein Hund von einer Farm, der hier schwimmt. Doch die Ohren sind zu klein für einen Hund und die Schnauze zu kurz.
    Aoife und die Kreatur mustern sich. Sieht aus wie ein Otter, aber größer, so groß wie eine Robbe, nur mit Fell. Die Kreatur hebt eine krallenbewehrte Pfote aus dem Wasser und putzt sich ausgiebig das Gesicht. Aoife hat das Gefühl, als müsse sie gleich niesen. Irgendetwas sammelt sich in ihr, von dem sie sich bald befreien muss. Dasselbe Gefühl überkommt sie auch, wenn sie zu lange auf eine Textseite starrt und sich immer weniger konzentrieren kann. Das Gefühl, dass Dinge in Bewegung geraten und sich jeden Moment in etwas völlig anderes verwandeln, wenn sie nicht aufpasst.
    »Gabe?«, sagt sie.
    Natürlich weiß sie auch, dass das glatter
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