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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Gretta, ohne von ihrer Strickerei aufzublicken. »Der Junge weiß wenigstens, wie man Probleme anpackt, das konnte er schon immer.«
    Aoife zieht ein Gesicht, genervt von der ewigen Bevorzugung der anderen. Sie steht auf, geht erst zum einen, dann zum anderen Fenster, stochert im Feuer, nimmt sich Claires Buch, blättert darin, legt es wieder hin. Sie hat das komische Gefühl, ihr Körper habe zu viel Blut. So viel, dass ihr Herz die Menge kaum bewältigen kann, obwohl es mit Hochdruck pumpt. Sie muss bald zu einer Entscheidung kommen. Vor allem muss sie hier raus, Gabe anrufen. Oder besser Gabe nicht anrufen, weil es das Letzte ist, was sie in dieser Situation tun sollte. Auf jeden Fall muss sie in Ruhe nachdenken. Aber wie, verdammt, in dieser winzigen Hütte? Wo überall Familie ist, die am liebsten jeden ihrer Gedanken absaugen würde, ehe er gefasst ist.
    »Wie viel Uhr haben wir?«, fragt Aoife, ohne die Antwort abzuwarten. »Gibt es hier eine Telefonzelle?«
    »In Claddaghduff«, sagt Gretta, »aber da kannst du jetzt nicht hin.«
    »Warum nicht?«
    »Wegen der Flut.«
    »Scheiße«, sagt Aoife, und bei Gretta fällt eine Masche.
    »Aoife-Magdalena«, sagt sie, »bitte achte auf deine Ausdrucksweise.«
    Aoife geht zur Tür, um nachzusehen, ob ihre Mutter recht hat. Ihre Mutter hat recht, und sie knallt die Tür wieder zu, kommt zurück und wirft sich auf einen Stuhl. Aber nur um im nächsten Moment erneut aufzuspringen und im Korb mit dem Kaminholz zu wühlen.
    »Herrgott, Kind, hör auf damit.«
    »Womit?«
    »Das ganze Haus auf den Kopf zu stellen«, sagt Gretta, Maschen zählend.
    »Tu ich doch gar nicht.«
    »Tust du doch. Wenn du nichts zu tun hast, such dir etwas und …«
    »… tu es!«, ergänzt Aoife das Mantra ihrer Kindheit.
    Sie hockt sich auf den Boden und blitzt Mutter und Schwester mit unverstellter Feindseligkeit an. Sie weiß nicht, was sie an den Abenden im Kreis der Familie eigentlich so wahnsinnig macht, aber sie fühlt sich eingepfercht und würde am liebsten ganz weit weglaufen, koste es, was es wolle.
    »Na gut«, sagt sie und steht auf. »Dann gehe ich noch einmal raus.«
    Sekunden später kracht die Tür ins Schloss.
    Gretta seufzt und nimmt die freie Stricknadel in die andere Hand. »Aus diesem Mädchen soll einer schlau werden«, sagt sie vor sich hin.
    Monica blättert in ihrer Zeitschrift und schweigt. Über den Brillenrand hinweg mustert Gretta ihr mittleres Kind. Sie sitzt so steif da wie das Fräulein Lehrerin, im Gesicht nichts als Selbstgerechtigkeit, Füße immer brav gekreuzt. Aber schöne Beine haben ihre Töchter, das dachte sie immer. Haben das natürlich von ihr, obwohl sie es nie zugeben würden.
    »Wenigstens schlafen die Kinder«, sagt Gretta mit klickenden Nadeln, die scheinbar selbsttätig den Faden schlingen. »Wahrscheinlich hundemüde, die armen Würmchen.«
    Immer noch keine Antwort, doch Monica hebt das Kinn.
    »Morgen wird bestimmt ein schöner Tag, der Himmel über dem Meer war ganz rosa, hast du das gesehen?«
    Gretta strickt weiter, Faden wird zu Masche, Masche wird zu Reihe, und viele Reihen werden zum Ärmel einer künftigen Strickjacke. In einem wunderschönen Lila, dankbares Mischgewebe, sogar maschinenwaschbar. Die Strickjacke soll Monica zu Weihnachten bekommen, doch wenn Madame sich nicht gleich zu einem netteren Betragen herbeilassen, wird sie sich das mit der Strickjacke noch einmal überlegen.
    »Ich glaube, wir sollten morgen noch einmal ins Kloster«, sagt sie und weckt damit bei ihrem Gegenüber zumindest rudimentäres Interesse. »Wenn du willst, kannst du ja mitkommen.«
    Aber immer noch nichts.
    »Ich nehme dich mit, nur dich. Die anderen stören nur.«
    Geziert blättert Monica mit dem Zeigefinger eine Seite weiter.
    »Diesem Frankie geht es wirklich nicht gut, dem Ärmsten. Schlaganfall, wenn mich nicht alles täuscht. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit, höchstens ein paar Tage, meiner Meinung nach. Er hat schon diesen, wie soll ich sagen, diesen Todesgeruch an sich. Genau wie bei meinem Vater, als es zu Ende ging.«
    Sie blickt von ihren Nadeln auf. Monica sieht sie an, wendet aber sofort wieder den Blick ab.
    »Und mit meinem Vater? Was war mit ihm?«
    Gretta atmet auf, als sie Monicas Stimme hört. Und triumphiert innerlich zugleich. Sie wusste doch, dass sie Madame zum Reden bringt, sie wusste es!
    Aber sie verbirgt ihre Freude und legt erst einmal den Kopf zur Seite, senkt Blick und Stimme. »Er war gar nicht da, Schatz. Die Schwester
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