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Der Sokrates-Club

Der Sokrates-Club

Titel: Der Sokrates-Club
Autoren: Nathalie Weidenfeld , Julian Nida-Ruemelin
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systematisch vollkommen überholt, ihre Irrtümer und Fehlinterpretationen von Beobachtungen sind so offenkundig, dass niemand auf den Gedanken käme, heute eine Aristotelische oder eine Hobbes’sche Physik zu vertreten. Anders in der Philosophie: Auch heute noch gibt es Platoniker, besonders auch in der Wissenschaftstheorie und der Logik, die bestimmte Grundüberlegungen Platons zur Ontologie für richtig halten und auf moderne Theorien anwenden. Es gibt zahlreiche Aristoteliker in der praktischen Philosophie, die die Grundgedanken Aristoteles’, zum Beispiel bezüglich der Rolle von Tugenden, Charaktermerkmalen und Dispositionen für ein gelungenes Leben und richtiges Handeln, teilen. Manche zeitgenössische Philosophen sind sogar davon überzeugt, dass so gut wie alle wichtigen philosophischen Theorien und Überzeugungen schon einmal in der Geschichte der Philosophie formuliert worden seien, dass derjenige, der also meint, in der Philosophie wirklich Neues leisten zu können, damit nur offenbart, dass er ungebildet ist oder ein schlechtes Gedächtnis hat. So gesehen befassen wir uns mit den Klassikern also nicht aus einem historischen Interesse, sondern weil wir Antworten suchen auf philosophische Fragen und überzeugt sind, dass die Klassiker uns dabei helfen können.
    An dieser Stelle hakt der Philosophie-Skeptiker ein: Für ihn ist die Tatsache, dass die Klassiker unverändert aktuell geblieben sind, gerade der Beleg dafür, dass die philosophische Erkenntnis nicht voranschreitet, dass sie sich immer im Kreise dreht und die immer gleichen Fragen in neuen Formulierungen traktiert, ohne sie jemals beantworten zu können. Da diese Skepsis nicht nur in manchen Einzelwissenschaften, sondern auch bei vielen Bürgerinnen und Bürgern verbreitet ist, möchte ich darauf etwas ausführlicher antworten.
    Gegen den Philosophie-Skeptiker sprechen zwei Argumente: das eine ist wissenschaftstheoretischer Natur und das andere anthropologischer. Zunächst das wissenschaftstheoretische. Das, was sich heute weltweit als Wissenschaft etabliert hat, und zwar ganz unabhängig von den kulturellen oder religiösen Kontexten, ist als Ganzes aus der Philosophie hervorgegangen. Dies ist aber nicht lediglich eine wissenschaftshistorische Tatsache, sondern charakterisiert die Rolle der Philosophie. Die Philosophie stellt Fragen, die aus dem lebensweltlich Vertrauten herausführen. Sobald diese Fragen sich mit einer konkreten Methode beantworten lassen, kann sich eine eigene wissenschaftliche Disziplin etablieren. Aber ohne die vorausgegangene Phase philosophischen Fragens wäre eine solche Disziplin erst gar nicht entstanden.
    Die griechischen Stoiker teilten die Philosophie zunächst ein in Logik, Ethik und Physik. Noch Immanuel Kant meint in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, also 2000 Jahre später, dass diese Einteilung der Philosophie nach wie vor Gültigkeit habe – allerdings gibt er ihr eine neue Interpretation. Die Logik beschäftigt sich mit den Regeln richtigen Schließens, allgemeiner: korrekten Begründens und Argumentierens. Die Ethik beschäftigt sich mit dem Handeln und entwickelt Kriterien für richtig und falsch, für das Wertvolle und das Wertlose, mit dem, was wir tun oder erstreben sollten. Die Physik befasst sich mit der Natur und ihren Gesetzmäßigkeiten. Der bedeutendste Physiker der Neuzeit Isaac Newton hat sein Hauptwerk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica im Jahre 1687 veröffentlicht. Die klassische Physik verstand sich als selbstverständlicher und zentraler Teil der Philosophie. Immanuel Kants Erkenntnistheorie kann man auch als eine philosophische Antwort auf die Herausforderung Isaac Newtons interpretieren.
    Im 19. Jahrhundert beginnt der Prozess der Herauslösung der Einzelwissenschaften aus dem Schoß der Philosophie. Innerhalb weniger Jahrzehnte verselbstständigen sich die Physik, die Chemie und die anderen Naturwissenschaften, dann die Geisteswissenschaften, schließlich die Psychologie und die Sozialwissenschaften. Es entsteht das gesamte Spektrum der Einzelwissenschaften, wie wir es heute kennen und das sich nach wie vor in permanenter Veränderung befindet. Auch heute noch lösen sich nach wie vor Einzelwissenschaften ab, dieser Prozess ist keineswegs abgeschlossen. Die moderne Logik und Informatik ist ein Kind der philosophischen Logik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ein Gutteil der heutigen Linguistik ist aus sprachphilosophischen Überlegungen aus den 40er und
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