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Der Sokrates-Club

Der Sokrates-Club

Titel: Der Sokrates-Club
Autoren: Nathalie Weidenfeld , Julian Nida-Ruemelin
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manche Grundfragen der Philosophie sich so wenig ändern, während es in den Einzelwissenschaften einen derart rasanten Erkenntnisfortschritt zu geben scheint, dass die Ergebnisse der Forschung, die einige Jahrzehnte zurückliegen, schon als überholt gelten. Warum bleibt – um die Frage etwas zu differenzieren – die philosophische Argumentation so sehr im Fluss, warum ist es unmöglich, die philosophischen Erkenntnisse in einem Lehrbuch ein für alle Mal zusammenzufassen, wie etwa die klassische Mechanik in der Physik? Warum verfestigt sich der philosophische Erkenntnisfortschritt nicht in der gleichen Weise wie etwa der der Biologie? Wohlgemerkt, wie oben ausgeführt, der Erkenntnisfortschritt lässt sich durchaus als gesichertes Wissen zusammenfassen, aber eher dort, wo er in den Einzeldisziplinen und nicht in der Mutterdisziplin, der Philosophie, erarbeitet wurde.
    Eine Antwort betont gerade dies: Die Philosophie als Fach versteht sich in der Moderne so, dass sie sich auf die schwierigen Fragen konzentriert, auf das, was sich einer methodisch gesicherten und empirisch gestützten Klärung entzieht. Man könnte es ironisch formulieren: Die Philosophie ist dasjenige Fach, dem die unlösbaren Fragen bleiben. Das habe ich im Auge, wenn ich von der Philosophie– ironisch– als einer » Residualwissenschaft« spreche. Man kann das Gleiche aber auch positiv wenden: Die Bedingungen menschlicher Existenz wandeln sich nicht so grundlegend, dass uns bestimmte Grundfragen, wie die nach dem guten Leben (Glück), nach der Gerechtigkeit (im sozialen und politischen Umgang), nach theoretischer und praktischer Vernunft, nach den Kriterien wohlbegründeter Überzeugungen und Handlungen, nicht erhalten bleiben.
    Es ist ein szientistisches Missverständnis, eine besondere Form von Überheblichkeit, die insbesondere in manchen Naturwissenschaften verbreitet ist, zu meinen, dass sich die menschliche Lebensform durch den Einfluss von Wissenschaft, Technik und Ökonomie so fundamental ändere, dass uns keine dieser existenziellen Fragen erhalten blieben. Diese Fragen bleiben existenziell, weil sie Grundbedingungen menschlicher Existenz, jedenfalls in einem breiten kulturellen Spektrum, betreffen, weil sie mit unserem menschlichen Selbstverständnis und unserem Verhältnis zur Welt, unserem Weltbild, verbunden sind.
    Ohne die Philosophie würden sich die Einzelwissenschaften von der Lebenswelt der Menschen entkoppeln. Die Philosophie hat auch die Aufgabe, zwischen » Lebenswelt « und » Wissenschaft « zu vermitteln. Ohne die Philosophie würde es noch schwieriger sein, die einzelwissenschaftlichen Forschungsergebnisse zu einem in sich stimmigen, wissenschaftlich begründeten Weltbild zusammenzuführen. Die Philosophie ist nicht nur Mittlerin zwischen Lebenswelt und Wissenschaft, sondern auch Integrationsdisziplin gegenüber den Einzelwissenschaften. Das Verhältnis von Philosophie und Lebenswelt hat mich über viele Jahre beschäftigt. Einige Ergebnisse sind in Philosophie und Lebensform (2009) nachzulesen.
    Die Philosophie ist also erstens » Residualwissenschaft«: Ihr bleiben die schwierigsten, die existenziellen, die die menschliche Lebensform begleitenden Fragen erhalten. Die Philosophie ist zweitens » Orientierungswissenschaft« als eine normative, maßgebende Disziplin, sie stützt sich nur in geringem Maße auf empirische Methoden, sie strebt nach begrifflicher Klarheit und auf argumentative Verlässlichkeit (Logik) und entwickelt Kriterien der Normativität (Ethik). Sie kann dabei nicht die Rolle des Priesterstandes früherer Zeiten einnehmen und mit der Autorität höheren Wissens dekretieren, was richtig und was falsch, was gut und was böse ist. Aber sie kann eine pluralistisch verfasste, moderne Gesellschaft dabei unterstützen, sich Klarheit zu verschaffen darüber, was ihr wichtig ist, wie sich die Individuen selbst verstehen, welche Regeln sie gemeinsam akzeptieren. Die Philosophie ist drittens » Integrationswissenschaft«. Sie führt die einzelwissenschaftlichen Forschungsergebnisse zu einem » kohärenten Weltbild« zusammen, auch das ist ein Beitrag zu einer existenziellen Orientierung. Diese drei hier genannten Charakterisierungen der Philosophie als Residual-, Orientierungs- und Integrationswissenschaft sind nicht lediglich Beschreibungen dessen, was Philosophie als Disziplin heute de facto ausmacht, sondern man lese diese Charakterisierungen als Aufgaben der zeitgenössischen Philosophie.
    Die Philosophie
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