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Der Siegelring - Roman

Titel: Der Siegelring - Roman
Autoren: Andrea Schacht
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war. Nicht sehr hoch, aber mit einigen Untiefen und einer nicht ungefährlichen Strömung, die es angeraten sein ließ, zu warten, bis der Ebbstrom den festen, feuchten Sand wieder freigelegt hatte.
    Annik sah zum Himmel hoch. Einige kleine Wolkenbäuschchen wanderten gen Osten, die Sonne war inzwischen um einige Handbreit weiter gestiegen, und wenn sie noch trockenen Fußes in die Töpferei gelangen wollte, dann sollte sie sich jetzt sputen. Mit kräftigen Schwimmzügen wandte sie sich in Richtung Strand. Dort nahm sie ihr Hemd auf und kletterte den Felsen empor. Aus dem Regenwassertrog vor dem Haus schöpfte sie einen Eimer Wasser, löste die beiden Zöpfe, die sie im Nacken zusammengebunden hatte, und goss sich das Süßwasser
über den Kopf. Ihre Haare reichten ihr bis über die Hüften, und im Licht der strahlenden Sonne glänzten sie wie Gold. Doch da viele Angehörige ihres Volkes blond waren, empfand sie diese Farbe nicht als etwas Besonderes. Wie ein nasser Hund schüttelte sie sich, dass die Tropfen flogen und beeilte sich dann, sich abzutrocknen, anzukleiden und auf den Weg zu machen.
    Es waren die Wölkchen, die über den Himmel zogen, die ihr die Idee eingaben, später am Tag die Seherin aufzusuchen.
    Mutter Tekla war eine von allen hochgeachtete Frau, die ihre Hütte hinter dichten Eibenhecken am Rande des Dorfes hatte. Sie war schon alt, manche behaupteten, sie habe schon weit über sechzig Sommer gesehen, aber sie selbst sagte dazu regelmäßig, die Winter seien interessanter gewesen. Sie spann und webte die Wolle, die man zu ihr brachte, und dafür erhielt sie ihren Anteil an Korn und Eiern, Fleisch und Milch. Ihre zwei Töchter und ihre zahllosen Enkel waren oft bei ihr, aber an manchen Tagen scheuchte sie sie alle wie eine Schar Hühner von ihrem Hof, um alleine zu sein. Das war schon immer so gewesen, und niemand nahm es ihr übel, wenn sie in Ruhe gelassen werden wollte. Denn auf der anderen Seite war sie überaus hilfsbereit, wenn man sie um Rat fragte, ganz gleich, zu welchen Angelegenheiten. Und ihren Rat hatten bisher fast alle als gut und segensreich empfunden.
    Annik hoffte, dass die Alte Zeit für sie finden würde, als sie am späten Nachmittag den staubigen Weg durch das Dorf ging und an der hohen Eibenhecke den Einschlupf zu ihrem Haus suchte. Sie hatte Glück, zwischen den Gemüsebeeten kniete Mutter Tekla und hackte die Erde auf. Als sie Annik kommen sah, schenkte sie ihr ein Willkommenslächeln, und mit einem Schwung, der ihr
Alter Lügen strafte, erhob sie sich vom Boden. Bewundernd betrachtete sie die elegant geformte Keramikschale, die ihre Besucherin in den Händen hielt.
    »Noch so eine Erdarbeiterin wie ich. Was führt dich zu mir, Anna, Tochter der Deneza?«
    »Na, was meinst du, Mutter Tekla?«
    »Du brauchst ein feines Wollhemd für die lange Reise?«
    Annik wusste natürlich, dass Mutter Tekla die Gabe der Vorhersehung besaß, aber jetzt zeichnete sich doch Verblüffung in ihrem Gesicht ab. Die Alte kicherte.
    »Nein, nicht die Vögel haben es mir verraten, Annik. Menschliche Schwätzer erzählen, dass dein schöner Junge mit den Römern gehen will. Wirst du mit ihm ziehen?«
    »Ich weiß es nicht. Das ist genau der Grund, warum ich hier bin.«
    »Ach ja? Und, soll ich dir die Entscheidung abnehmen?«
    »Nein - oder besser, vielleicht kannst du mir helfen, eine Entscheidung zu treffen?«
    »Vielleicht.«
    Mutter Tekla wusch sich die erdverschmierten Hände am Brunnen und warf sich ein Wolltuch über die Schulter. Annik stellte die Schale vorsichtig auf die Holzbank an der Hauswand. Die Seherin nickte.
    »Komm mit.«
    Annik folgte der Alten, die den Weg zur Küste einschlug. Dort, an der Düne, inmitten der Wiesen, ragte eine rund geschliffene Steinformation auf, die ihr Ziel war. Das hohe, saftig grüne Gras streifte den Saum ihrer langen Röcke, und ein schwarzer Vogel erhob sich krächzend von dem Felsen, um sich einer Beute auf dem Boden zu widmen.
    »Raben!«, stellte Mutter Tekla fest. »Magst du sie, Annik?«

    »Sie sind mir unheimlich. Vielleicht, weil sie so hässliche Stimmen haben.«
    »Sie erzählen dir viel, wenn du sie verstehen kannst.«
    »Ihre Sprache verstehe ich nicht, dazu bedarf es grö ßerer Weisheit als der meinen, denke ich.«
    »Es ist die Sprache der Götter. Die Raben sind ihre Boten. Nun, wir werden sehen.«
    Mutter Tekla erklomm die Steine, die an manchen Stellen ausgehöhlt waren, so dass sich in den runden Mulden das Regenwasser sammelte.
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