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Der Siegelring - Roman

Titel: Der Siegelring - Roman
Autoren: Andrea Schacht
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blühenden Ginsters neben dem Haus und der Rauch der Holzfeuer aus den Hütten auf der anderen Seite der Bucht. Möwenkreischen mischte sich in das Gackern der aufgeregten Hühner, die nach verstreuten Körnern pickten, und zwei Elstern zankten sich mit rauen, unwirschen Stimmen um etwas, was sie am Strand gefunden hatten.
    Rayan war schon früh aufgebrochen, sein Pferd hatte unten in der sandigen Bucht eine Hufspur hinterlassen, die jetzt langsam von der steigenden Flut ausgelöscht wurde. Annik drehte sich um, nahm die kurze Tunika vom Bettpfosten und warf sie sich über. Mit sicheren Bewegungen, die auf lange Übung schließen ließen, kletterte sie die Felsen hinunter zum Strand, spürte den noch kühlen Sand unter den bloßen Füßen und sah über das blaue Meer hinaus.

    Der Sommermorgen war makellos klar, und am Horizont teilte sich deutlich die dunkelblaue Wasserfläche vom hellblauen Himmel. Kleine weiße Schaumkronen spielten auf dem Wasser, und auf den aus den Fluten herausragenden Felsen hatten sich unzählige der weißen Reiher und Möwen niedergelassen. Hin und wieder erhob sich eine Schar, drehte eine gemeinsame Runde und landete nahe der Küste auf Wasser. Kleine, emsig pickende Strandvögel eilten an der Wasserlinie geschäftig auf und ab und drehten und wendeten sich stets gleichzeitig, als gäbe ein unsichtbarer Führer ihnen das Kommando. Annik lächelte wie immer bei diesem Anblick. Er erinnerte sie an die römischen Legionäre, die sich ordentlich in Formation bewegten, gedrillt und alle gleich ausgerichtet.
    Aber dann verblasste ihr Lächeln, denn ihr fiel wieder ein, dass sie nun endgültig ihre Entscheidung treffen musste. Bevor die Sommersonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, wollten Rayan und Falco aufbrechen. Noch in der Nacht hatte Rayan sie gebeten mitzukommen. Und das hieß Abschied nehmen vom Meer, von den salzigen Gestaden, dem weiten Blick bis hin zur Unendlichkeit, dem Ende der Welt. Abschied von ihrer eigenen kleinen Insel.
    Annik liebte das Meer. Trotz allem. Sie liebte es nicht nur an den hellen, sonnigen Tagen wie diesem, sondern ebenso die bleigrauen Wogen unter sturmdunklem Himmel, die wabernden, weißen Nebel und die dunstigen, feuchtkalten Tage. Sie liebte es, selbst wenn es tobte, sich auftürmte und brüllte und dumpf gegen die Felsen donnerte. Sie respektierte es, wenn es versuchte, einen Teil der Küste zu verschlingen, wie es ihm einst, vor sechs Jahren, gelungen war. Als es das kleine Stück Land, auf dem sie jetzt ihre Hütte hatte, vom Festland trennte.
Sie nahm es dem Meer nicht übel, dass es seine Fluten so gewaltig hatte ansteigen lassen. Dennoch trauerte sie noch heute um ihre Eltern und die vielen anderen ihres Clans, darunter auch Rayans Angehörige, die damals umgekommen waren.
    Das Meer, ihre Heimat, sollte sie verlassen! Dorthin ziehen, wo, wie Falco sagte, die Wälder dicht und dunkel waren, sich über Hügel und Berge ausbreiteten und nur der breite Fluss mit seinem gemächlichen Strömen daran gemahnte, dass alles Wasser zum Meer floss. Andererseits - was hielt sie noch hier? Ihre Familie war tot, und wenngleich sie vom Nachbardorf, das von den schlimmsten Auswirkungen der großen Flut verschont geblieben war, selbstverständlich aufgenommen worden war, so war sie doch irgendwie fremd geblieben. Sicher, der Töpfer hatte sie gerne bei sich untergebracht, denn sie war schon als Kind geschickt mit Ton und Drehscheibe umgegangen. Sie hatte viel von ihm gelernt, und jetzt waren sogar die anspruchsvollen Römer bereit, ihre Schalen und Krüge zu kaufen. Als Töpferin könnte sie im Rheinland genauso ihren Lebensunterhalt verdienen und nicht nur abhängig von Rayan sein.
    Sie verstand ja, was ihn reizte. Rayan war wild und voller Energie. Falco dagegen war ein überzeugender Redner, wenn er etwas wollte. Und er wollte Rayan.
    Rayan, der Sohn eines Pferdezüchters, der ein geradezu magisches Geschick bei diesen Tieren hatte, war zwei Jahre jünger als Annik. Sie waren Haus an Haus aufgewachsen, nicht gerade in liebevoller Freundschaft, sondern raufend, streitend, miteinander schmollend und in seltenen Fällen auch mal in trauter Einigkeit gegen den Rest der Welt. Dann kam die Flut, als Annik neunzehn und Rayan siebzehn Jahre alt waren. Annik hatte nicht nur ihre Verwandten, sondern auch ihren Liebsten
verloren, und als sie durch die Trümmer des verwüsteten Dorfes strich, fand sie lediglich den großen Jungen weinend an den Resten der Herdstätte seiner
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