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Der Siegelring - Roman

Titel: Der Siegelring - Roman
Autoren: Andrea Schacht
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einen kurzen Moment zerriss der Nebel, und da lag ein Strand vor mir, ein langer, weißer, sandiger Halbmond, hinter dem sich eine grüne Düne erhob. Ein Reiter kam näher. Ich wusste, es war mein Geliebter.
    Dann wachte ich richtig auf. Aber kaum dass ich meinen Blick zentrieren konnte, setzte schon die Verwirrung ein. Etwas stimmte nicht. Es stimmte ganz und gar nicht! Wo war die vertraute graue Steinwand mit dem kleinen, rechteckigen Fenster, durch dessen Holzladen die Morgensonne ihre schmalen Streifen warf? Wo waren die dunklen Balken über mir, auf denen das Strohdach ruhte? Wo war die vertraute Decke aus Wolle mit ihrem dunkel- und hellbraun gewebten Karomuster? Wo war das Holzgestell meines Bettes, der Kittel, den ich am Abend über den Pfosten gehängt hatte? Und wo war Rayan? Wo war mein blonder Geliebter, der am vergangenen Abend endlich wieder einmal den Weg in meine Hütte gefunden hatte?

    Befremdet betastete ich die weiche, weiße Decke, die über mir ausgebreitet war. Irgendetwas Weißes war auch um meine Arme gewickelt. Das Licht in dem Zimmer mit den schrecklich weißen Wänden war grell, es strömte, völlig unwirklich, von der Decke herab und nicht vom Fenster her. Und das Bett - ihr Götter! -, das Bett war zwar wunderbar weich, aber das Gestell war, wie ich durch kurzes Befühlen feststellte, aus kaltem Metall. Ich schloss die Augen wieder. Es war zu hell, zu unbekannt, zu fremd. War das die andere Welt? War ich unversehens durch den Nebel in die Welt der Götter und Geister geraten? War ich in der Anderwelt angekommen, in die die Menschen nach dem Tod eingingen? Man wanderte dort, hieß es, und vergaß, was geschehen war, bis man wieder den Weg zurück in die diesseitige Welt fand und neu geboren wurde. War ich denn gestorben? Oder hatte mich eine der Korriganen entführt?
    Hatte ich schon alles vergessen? Verzweifelt versuchte ich mich zu erinnern, was geschehen war. Doch ich konnte mich nur entsinnen, dass ich mich, als die Sonne untergegangen war, an Rayans Seite geschmiegt hatte. Seine muskulösen Schultern, seine breite Brust und sein straffer Bauch waren warm und verlockend gewesen, und bevor wir eingeschlafen waren, hatten wir uns eingehend mit den Freuden beschäftigt, die uns unsere Körper schenkten. Das führte zwar gelegentlich an die Grenzen zu einer anderen Welt, aber ich hatte noch nie gehört, dass jemand sie dadurch überschritten hätte. Überhaupt, soweit ich wusste, war es nur den ganz wenigen Weisen und Wissenden möglich, lebend durch die Tore der Anderwelt zu gehen und wieder zurückzukehren. Gewöhnliche Sterbliche fanden die Eingänge nicht. Oder sie kehrten nicht zurück.
    Da war jetzt eine Stimme. Jemand sprach mich an.
Ohne Zweifel. Auch wenn ich die Worte nicht verstand, so war doch der Tonfall eindringlich. Jemand rief mich und wollte, dass ich wach würde. Mühsam hob ich noch einmal die Lider und blinzelte in das allzu helle Licht. Der weiß gekleidete Mann erkannte meine Pein und verdunkelte mit einer schnellen Handbewegung den Raum. So war es besser. Er musste ein sehr kundiger Druide sein, der so über das Licht gebieten konnte. Aber sosehr ich mir auch Mühe gab, ich konnte einfach nicht verstehen, was er sagte. Es war nicht meine Sprache, und es war auch nicht das Latein, das die Römer mir beigebracht hatten.
    Frustriert schüttelte ich den Kopf und bemerkte dabei, dass auch er zum Teil mit irgendetwas bedeckt war. Ja, wenn ich es richtig betrachtete, schmerzte mein Gesicht ganz ungeheuerlich. Mein linker Arm und die rechte Brust brannten ebenfalls wie Feuer. Ein Stöhnen entrang sich mir, und der Druide oder wer immer der Mann war gab ein paar beruhigende Worte von sich. Etwas glitzerte in seiner Hand auf, ich spürte ein leichtes Stechen und sank gnädig in meine Traumwelt zurück.

3. Kapitel
    Die Seherin
    Als Annik das nächste Mal aufwachte, war, den Göttern sei Dank, alles wieder in Ordnung. Die Sonnenstrahlen bildeten lange Streifen durch den Holzladen vor der Fensteröffnung, und von draußen her drang das Meeresrauschen. Die Morgenflut kam herein, und die Dünung brach sich an den rund gewaschenen Felsen vor dem Haus. Annik streckte sich und stand auf. Nackt, wie sie war, öffnete sie die Tür und ließ den frischen Wind über ihren schlafwarmen Körper streifen, bis sich eine Gänsehaut bildete. Salzige Gischt und der Geruch von feuchtem Tang, der sich an der Flutlinie abgelagert hatte, traf ihre Nase, aber auch der süße Duft des gelb
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