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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg
Autoren: Oliver Hassencamp
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brauchte es einige Takte im noch vertrauten Obergefreitenjargon, dann erst durfte sein, was nicht sein durfte.
    Im Orchestergraben swingte eine Armyband, auf der Bühne wechselten Sketches, Tanz- und Gesangsnummern einander ab. Viel Selbstironie und alles ungemein lässig. Nichts vom Kraft-durch-Freude-Durchhaltefrohsinn unserer Wehrmachts-Tingeltruppen. Mir war wie im Vorschulalter an Weihnachten, wenn ich endlich rein durfte. Ich schwebte ohne Ideologie, ohne Vaterland am Bein. Bühne — das bedeutete Lichtfülle statt Sparbirne, Spiel statt Schlangestehen, bedeutete Phantasie als bessere Realität.
    Der fallende Vorhang holte den falschen Kilian in die Wirklichkeit zurück. Den verlöschten Scheinwerfer, als Funkfeuer meiner Zukunft geschultert, marschierte ich heim ins befreite Reich. Und hatte plötzlich ein Ziel: Wiedergutmachung im Eigenbau: Nach sechs Jahren Soldatsein — sechs Jahre heitere Freiheit. Auf der Bühne. Trotz Hungerjahren — Hungerberuf. Mit Ausweichmöglichkeit in musikalische Unterhaltung.

    Die Bahnfahrt auf der Hauptstrecke von Stuttgart nach München entwickelte sich zu einem Erlebnis eigener Art. Bis zu dem großen Viadukt bei Nürtingen dampfte das Zügle schwäbisch-emsig. Dann mußten alle laufen. Den Berg hinunter, um den gesprengten Brückenteil herum und drüben hinauf, wo der Anschluß wartete. Immerhin, sogar D-Zugwagen mit Ziehharmonika Verbindung. Aber wieso schon vollbesetzt? Man schob, man wurde geschoben, stand in fremdem Atem auf irgend etwas und merkte mit der Zeit, daß es die eigenen Beine sein mußten, denn sie fingen an zu schmerzen, mangels der Möglichkeit, sich anzulehnen oder das Gewicht zu verlagern. Dann stand der Zug wieder, und alle sollten raus, weil zwei Reisende, die man nicht sehen konnte, mit einer großen Kiste aussteigen wollten. Druck entstand und Gegendruck; jeder war froh, überhaupt im Wagen zu sein, und wollte seinen Platz auf keinen Fall gefährden.
    »Draußen stehen zu viele, die noch mitwollen !« warnte jemand.
    Druck und Gegendruck wurden stärker, die Eingekeilten dazwischen blasser. Willensäußerungen prallten auf
    Unwillensäußerungen, beide überschritten den Plaudertonphonpegel und die Grenze zur Beleidigung.
    Da gab plötzlich eine Seite nach. Wie von einem Strudel erfaßt, zog es die Eingekeilten in eine Kreisbewegung hinein. Mit dem Hinterteil prallte ich gegen eine Barriere. Mehrere Sinne meldeten, es müsse sich um das Klo handeln, genauer um das Waschbecken dort. Mein Rucksack paßte genau in die Nische. Ohne Druck — welch unerwartete Wendung zum Komfort. Wir waren mindestens zu dritt.
    Der Zug fuhr dann wieder, und wir bekamen Besuch. Rätselhaft wie sich die Leute zu unserer Latrinengemeinschaft hatten durchschlängeln können.
    Der Dialog hat dokumentarischen Rang:
    Würden Sie bitte mal rausgehen?
    Das sagen Sie so, Fräulein.
    Sie müssen hier raus. Das ist ein Klo.
    Das wissen wir.
    Ich kann nicht länger warten. Ich muß...
    Dafür haben wir vollstes Verständnis.
    Gehört der Koffer Ihnen?
    Nein.
    Ich möchte die Tür zumachen.
    Das schlagen Sie sich aus dem Kopf, gnädiges Fräulein.
    Der Koffer muß weg.
    Hören Sie, ich muß...
    Daran zweifelt ja niemand.
    Sie müssen, und wir können nicht.
    Aber...
    Kein Aber! Betrachten Sie uns als Einrichtungsgegenstände.
    Bei denen vorher ging’s auch.
    Bei denen vorher?
    Es ist ein ewiges Kommen und Gehn.
    Nehmen Sie Platz, gnädiges Fräulein. Wir schauen nicht hin. Wir sind wie Klofrauen.

Therapie mit Tönen

    I m Anfang war Musik. Siebzig Tage nach der Kapitulation gaben die Münchener Philharmoniker unter Eugen Jochum im Prinzregententheater ihr erstes Konzert. Mit Mendelssohn, Mozart, Tschaikowsky ein harmonischer Wiederanfang. Leben hieß Kulturleben, Kunst war Medizin gegen den Alltag. Es gab eigenartige Nutzverbindungen: So wurden in manchen Theatern Karten nur dem ausgehändigt, der neben dem Eintrittspreis auch ein Brikett entrichtete. Das Theater ist geheizt! stand lockend auf einem Plakat des literarischen Kabaretts Schaubude. Das Schöne, Heitere, Erbauliche hatte Vorfahrt. Wer erfolgreich um Karten angestanden war, zehrte noch lange davon. Wer keine bekam, strickte seine Kultur selber, hüllte sich in Feinsinn und kroch für Stunden unter den Glassturz des Erbaulichen.
    Das bessere Deutschland , vor allem dasjenige mit akademischer Bildung, litt lautstark an der Lage, Zitate von Goethe, Hölderlin, Rilke bewiesen das Repertoire an Vergleichsmöglichkeiten.
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