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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg
Autoren: Oliver Hassencamp
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Tieffliegerangriff hatte er den rechten Arm verloren. Seitdem nahm er die Musik als Therapie. Vor dem Radio vergaß er die schwere Verwundung, er swingte sich ein in sein neues Gleichgewicht. Wie der Blick in eine Partitur zeigt, markiert Swing eine Mitte. Auf der einen Seite arrangiertes Zusammenspiel im Sinne abendländischer Überlieferung, wenn auch mit den gewagten Harmonien des Jazz, auf der andern intuitive Improvisation des jeweiligen Solisten. Swing war die Mitte zwischen Aufbruch und Tradition, zwischen neuer und alter Welt, Sichausleben vor dem Hintergrund bestehender Ordnung, ohne diese zu sprengen — musikalisches Art Deco.
    Später, in den Fünfzigerjahren, als die amerikanischen Bigbands der Swingära mit Jazz at the Philharmonic deutsche Konzertsäle füllten, lernte ich Benny Goodman kennen. Auf seinen Wunsch brachte ich ihn in ein bayerisches Restaurant und versuchte dort, ihm zu erklären, was er mit seiner Musik für uns bedeutet hatte. Der King of Swing kaute an einem Stück Leberkäs, blinzelte zufrieden, während seine beiden kleinen Finger aus lauter Gewohnheit Zweiunddreißigstel zuckten und sagte: »I like bavarian sausages !«
    Meine Enttäuschung entging ihm, denn sie währte nicht lange. Ich begriff, daß es so richtig war. Der Verursacher soll nicht wissen, was er verursacht. Was zu Herzen geht, hat im Kopf nichts verloren.

    Die Besatzer nahmen den Swing weniger wichtig. Für sie war er ein nie entbehrtes Mittel zur Unterhaltung. Ihr Bedürfnis, sich trotz fremdem Land und staatlicher Kleidung nicht zu langweilen, machte eine Armee von Unterhaltern mobil. Professionelle deutsche Jazzer, wie der im Dritten Reich als > entartet< gerügte Schlagzeuger Freddie Brocksieper, der Trompeter Charly Tabor oder ein noch unbekannter, vitaler Tenorsaxophonist namens Max Greger, meldeten sich lautstark aus der inneren Emigration zurück und wurden sofort beschlagnahmt. Abend für Abend durften sie spielen, was und wie sie schon immer hatten spielen wollen, dazwischen amerikanische Zigaretten rauchen und sich sattessen. Wie wurden sie beneidet! Von einem Musiker hieß es, er habe eine mit Wachstuch gefütterte Aktentasche, da kippe er alles Eßbare hinein, um es den Seinen mitzubringen.
    Max Greger leitete seine erste Band im Negerclub Orlando di Lasso am Platzl. Deutschen war der Zutritt verboten. Außer Fräuleins oder, wie sie auf bayrisch hießen, Ami- schlampen. Sie wurden ja gebraucht. Auch zum Tanzen. Es müsse wild zugehen, munkelte man. Ganz besonders beim Zitterbock . Ein Hörfehler, wie sich herausstellte, im damals für englische Ausdrücke noch ungeübten Ohr. Tatsächlich handelte es sich um die Bezeichnung für eine Tanzform, die bald geläufig werden sollte, Jitterbug.

    Musik bewegte die Menschen in beeindruckender Weise. Sie half zu vergessen, ja Not zu wenden. Welche Kraft von gemeinsamem Gesang auch ohne Marschrhythmus ausgehen kann, wurde an Fronleichnam, vier Wochen nach der Kapitulation, neu entdeckt. Die Prozession war am 31. Mai wegen Dauerregens verschoben worden und fand am Sonntag, den 3. Juni 1945 unter strahlend blauem Himmel statt. Das frische Grün junger Birken entlang der Straßen, durch die sich der Zug bewegte, eine unüberblickbare Menschenmenge vor und auf Ruinen deckten die Wunden der Stadt zu.
    Unsere Clique verfolgte diese erste öffentliche Feier von der schwer getroffenen Residenz herab. Wir saßen auf Dachlatten, wie auf einer ansteigenden Tribüne und überschauten den Platz vor der Theatinerkirche. Unvergessener Eindruck: die imposante Gestalt von Kardinal Faulhaber in roten Schuhen. Für Fußbekleidung war der Blick geschärft. Alle, Junge wie Alte, fühlten das Besondere, das sich hier ereignete. Menschen, die sich zu ihrem Glauben bekennen, hatte man in dieser Zahl und Offenheit lange nicht mehr gesehen. Doch das war es nicht allein. Hier stellte sich abendländische Tradition dar, eine neue Ordnung schien über Nacht auferstanden zu sein aus dem Nichts. Das andere Deutschland präsentierte sich zum ersten Mal in der Öffentlichkeit, strahlte Selbstbewußtsein und Verläßlichkeit aus gegenüber der alliierten Propaganda mit Kollektivschuld und überheblichem Umerziehungsgehabe. Enttäuscht vom Unverständnis der Befreier für die Mentalität der Befreiten, verwirrt von ihrer unberechenbaren, teils liebenswerten, teils hanebüchenen Naivität, begannen die Menschen, hier wieder zu hoffen. Ein trotziges Aufatmen ging gleichsam durch die Reihen. Wir
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