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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg
Autoren: Oliver Hassencamp
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zu beschaffen war, blieben sie nicht die einzigen, die das Niveau der Nation unterhalb des Knöchels anhoben. Konkurrenz, wenngleich bescheideneren Ausmaßes, aber auf adäquatem Einfall beruhend, drängte auf den Markt. Der Krieg hatte zwei Estinnen, zweiundzwanzig und fünfundzwanzig Jahre jung, von ihren Eltern getrennt und nach Bayern verschlagen. Die jüngere der beiden Schwestern landete in den Armen eines Malers, dessen Phantasie sich vornehmlich in Faschingsdekorationen austobte, später in Bühnenbildern fürs Fernsehen: Jörg Wisbeck nahm die Mädchen bei sich auf. Bombenkrieg und nahende Front beendeten die Romanze. Der Beherberger mußte sich um seine Mutter kümmern und dampfte, von den beiden Estinnen mit Proviant aus eigenen, schmalen Lebensmittelrationen versehen, ins Allgäu ab. Sie konnten einander weder schreiben, noch telefonieren und so fand er, Monate später, bei seiner Rückkehr in die Stadt, im genauen Wortsinn veränderte Verhältnisse vor.
    Die Mädchen nahmen ihn mit Freuden in seiner Wohnung auf. Ihre Lebensumstände hatten sich beträchtlich verbessert. Sie tischten ihm ein Essen auf, dem er schon bei den ersten Bissen entnahm, daß sein Bett von der Besatzungsmacht beschlagnahmt sein mußte. Gegen Abend kam der Usurpator in amerikanischer Uniform, ein humoriger Mann, ohne Gockelgroll. Männlich-solidarisch freute er sich, seinen Vorgänger kennenzulernen. Schließlich hatten sie ja den gleichen Geschmack.
    Das Privatleben der älteren Schwester blieb undeutlich. Freund Jörg wunderte sich nur über das seltsame Geschenk, das der Amerikaner ihr mitbrachte: zwölf Paar Boxhandschuhe. Ihre Freude darüber machte alles nur noch unverständlicher. Sie fiel dem Captain um den Hals und juchzte, als habe er ihr einen Brillantring an den Finger gesteckt.
    Es wurde ein langer Abend. Aus dem Radio tönte der Soldatensender AFN, bei Whisky und amerikanischen Zigaretten erzählten sie einander, wie es ihnen ergangen war. Die Ältere sprach wenig. Sie saß dabei und schnitt die neuen Boxhandschuhe auf, sezierte sie förmlich. Ihre Fertigkeit verblüffte: sie machte das sichtlich nicht zum ersten Mal. Behutsam legte sie die Häute in einen Korb, die Füllungen türmten sich in einer Schachtel, die langen Schnürsenkel zusammengerollt auf dem Tisch. Alles geschah ohne Hast, wie in früheren, bürgerlichen Zeiten bei Muttern.
    So empfanden wohl auch die jüngere Schwester und der Captain. Sie schauten ihr zu, verloren aber kein Wort darüber. Freund Jörg hätte gern gefragt, was es damit auf sich habe, doch er unterließ es. Handarbeit schafft Geborgenheit. Man hat das Gefühl, alles geschieht zum Besten der Familie, zu der auch er gehörte, wie sein Nachfolger. Die nostalgische Stimmung wollte er nicht stören.
    Lang nach Mitternacht war die Handarbeit beendet, die Mutterrolle aber blieb der Älteren. Sie richtete das Bett für den Gast, der nicht mehr so recht wußte ob ihm die Wohnung noch gehörte, richtete es auf der Couch, seinem zukünftigen Lager, wie einem heimgekehrten Sohn. Und er dachte zurück an die gar nicht ferne Zeit, da er die beiden Flüchtlinge aufgenommen hatte. Von Fürsorge und Whisky gewärmt, schlief er ein.
    Anderntags nach dem Frühstück mußte die Mütterliche weg. Geschäftlich, wie sie sagte. Anschließend gehe sie einkaufen. Der Hinweis genügte Freund Jörg, Neugier und Hilfsbereitschaft zu synchronisieren. Er begleitete sie, trug ihr den Korb mit dem Leder. Ein paar Straßenecken weiter hatte sich ein alter Handwerksmeister in einer Baracke eingerichtet. Zu ihm gingen sie. Auf den ersten Blick mochte man meinen, man befinde sich in einer Behelfsgerberei. Nur der mit diesem Gewerbe verbundene Geruch fehlte. Überall an den Wänden hingen, wie Kleintierhäute zwischen Nägeln gespannt, aufgetrennte Boxhandschuhe. Der Meister unterbrach seine Arbeit, er nahm die angelieferten Häute, tauchte sie in Wasser, bis sie sich vollgesogen hatten und spannte sie zum Glätten an die Wände, wo sich ein freier Fleck finden ließ.
    Schuhmachermeister war er, wie sein Arbeitsplatz verriet, und fertigte aus dem feinen Leder elegante Damenschuhe mit hohen Absätzen aus Holz, das er überzog. Wer ihm die dünnen Sohlen lieferte, blieb unerwähnt. Vielleicht wurden sie gegen Sofakissen eingetauscht — eine Nebenproduktion des Mädchens, um die Füllungen der Handschuhe zu verwerten.
    Die merkwürdige Kollaboration mit dem Captain als Hauptrohstofflieferant klappte zuverlässig. In der US
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