Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg
Autoren: Oliver Hassencamp
Vom Netzwerk:
gefunden und berichtete, wo man sich befand. Nach Süden ging die Fahrt, Starnberg wurde passiert, eine scharfe Kurve, die armen Würstchen flogen nach links, der Wagen schoß nach rechts in einen Feldweg und verschwand im Wald. Befand sich in dieser Gegend nicht ein berüchtigtes Gefangenenlager? Oder war das südlicher? Vielleicht nördlicher? Nicht endendes Kurvengeschlängel machte jede weitere Orientierung unmöglich. Plötzlich ein Ruck — alle klebten an der Stirnwand, der Wagen stand.
    Geraschel an der Plane steigerte die Spannung, für Sekunden blendete das grelle Licht. Der Blick, auf Stacheldraht gefaßt, verlor sich im gepflegten Park um eine schloßartige Villa mit Schwimmbad, damals noch eine Seltenheit. Auf einem Tennisplatz wechselten zwei Amerikaner Bälle. Sie waren nicht die einzigen. Auf der Terrasse des Anwesens wimmelte es von Uniformen, aber das war nicht alles. Der an die Luft gesetzte Freund kam, an der Seite ein Mädchen, die Tochter aus dem herrschaftlichen Anwesen, um die Gäste zu begrüßen. Sie hatte die neuen Herren des idyllischen Landsitzes überredet, mit Deutschen, wenn nicht zu reden, so doch wenigstens zu trinken und zu feiern. Der völkerverbindene Stoff stand kistenweise herum. Whisky, Wein, Bier, Sekt, Aperitifs, dazu ein Buffet vom Kaliber eines Staatsempfangs.
    Auf alles stürzten sich die gebeutelten Germanen samt dem Schweizer. Sie vergaßen den feudalen Rahmen, die übrigen Gäste und sämtliche Tischmanieren, schlangen und schluckten und waren in Kürze gerade noch fähig, ins Grüne zu wanken, bevor der Magen den Rückwärtsgang einlegte. Erschöpft sanken sie ins Gras oder Beet, schnarchten ihre Räusche himmelwärts, bis Leere im Magen sie weckte und zur nächsten Füllung trieb.
    Dann lagen sie wieder im Grünen, Besiegte wie Sieger, unter der Sonne und unter dem Mond. Länger als vierundzwanzig Stunden dauerte das Bacchanal. Keiner kümmerte sich um die andern, jeder schlug sich als Einzelkämpfer mit seinem Organismus herum.
    Gelegentlich kam ein lärmendes Gespenst die Treppe herunter — die eigentliche Herrin des Hauses, von einem gnädigen Schöpfer in der Vergangenheit belassen. Sie redete wirr, bis einer, der gerade dazu in der Lage war, ihr zu trinken einflößte und sie wieder hinaufgeleitete, zur nächsten Ruherunde.
    Bei schottischem Maltwhisky dachte Ernst an sein letztes alkoholisches Erlebnis, nur wenige Tage zuvor, ein Fest in der Gymnastikschule von Else Lang, wo ihm Maria Koppenhöfer seinen Bodenseeobstler gegen ihren original französischen Cognac abgeschwatzt hatte. Er schmeckte süffig, wenngleich weniger französisch. Am nächsten Morgen erwachte der Ernste mit einem Schreck. Die Kiefer klemmten, der Mund ließ sich nicht mehr schließen. Der Arzt verstand ihn am Telefon nur mit Mühe, immerhin aber den Namen. Er kam sofort. Maulsperre — lautete seine Diagnose, Ursache — Methylalkohol.
    Schüsse holten Ernst in die Gegenwart zurück. Drinnen im Haus ballerten volltrunkene Sieger in die Lichter an Zimmerdecken und Wänden, in der Diele polterte es, als stürze das Haus ein. Weniger martialische Amerikaner, auch sie von jener Spezies, die im Suff kindisch wird, veranstalteten Schrankkofferrennen. Sie hatten die Marterwerkzeuge für Dienstmänner aus vorsozialer Zeit irgendwo im Haus gefunden, setzten in jeden einen sogenannten Piloten und schoben die Ungetüme über den Rand der obersten Treppenstufe. Würfeln gleich überschlugen sich die Koffer nach sämtlichen Seiten, öffneten sich unterwegs, warfen die Amerikaner heraus, und wieder einmal zeigte es sich, daß die besseren Schutzengel ehemalige Alkoholiker sein müssen: sie behüteten ihresgleichen mustergültig. Keiner wurde verletzt.
    Nach endloser Nacht stach die Mittagssonne wie durch ein Brennglas in die Brummschädel und entzündete dort die Frage: Wie kommen wir eigentlich nach Hause?
    Keiner der verstreut herumliegenden Amerikaner wußte eine Antwort. Sie alle wohnten hier.
    Freund Ernst sah eine Möglichkeit, die sich gerade erhoben hatte: Den Mann im übereleganten Anzug eines Schiebers. Er machte mit den Amerikanern Geschäfte und fuhr, als Playboy der Stunde Null, einen weißen DKW. Sechs Germanen hatten sich bereits hineingezwängt, doch die Karosserie kam einem siebten sozusagen entgegen. Mit weit abgespreizten Schenkeln bei geschlossenen Fersen nach Frosches Art in der Felge des auf dem Schrägheck festgeschraubten Reserverades kauernd, die Hände um den Reifen gekrallt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher