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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg
Autoren: Oliver Hassencamp
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kannte ich in Stuttgart? Hatten sie überlebt? Wohnten sie noch dort, wo sie gewohnt hatten? Oder lagen die Häuser in Trümmern?
    Den Feuerschein der letzten Bombardierung hatte ich selbst gesehen. Von Tuttlingen aus. Dorthin war das Lazarett, dem ich angehörte, nach dem Angriff auf die Lazarettstadt Freiburg im Breisgau verlegt worden. Ohne mich. Im Durcheinander nach der Bombennacht hatte ich mich eigenmächtig an den Bodensee abgesetzt. Etwas voreilig, wie sich zeigte. Obwohl in Rekonvaleszenz, sollte ich wegen Fahnenflucht vors Kriegsgericht. Ende 1944 mußte in Tuttlingen Durchhalteeifer gemimt werden. Der Sonderzug des Reichsführers SS Himmler stand bombensicher in einem Tunnel, nicht weit vor der Stadt. Mit Mühe gelang es mir schließlich, meine Behauptung, ich hätte die Großeltern evakuieren müssen, schriftlich bestätigt zu bekommen. Ich beantragte Verlegung nach Konstanz, wo ein Onkel ein Sanatorium betrieb, das zeitgemäß mit Kurgästen in Uniform vollgestopft war. Es klappte. Mich loszuwerden, den Deserteur oder Nicht-ganz-Deserteur, der schon durch seinen englischen Vornamen verdächtig war, kam den Tuttlinger Machthabern gelegen.

    Stuttgart empfing uns ablehnend. Dreckig und durch Zerstörung fremd. Wie Ratten krochen graue Menschen aus Löchern, verschwanden hinter Trümmern. Durch die Straßen rollten Militärfahrzeuge und dazwischen, bisher nicht gesehene amerikanische Zivilwagen, fischmäulige Chromprotze in hollywoodhaftem Art-Deco-Schwulst.
    Unsere Wege trennten sich. Friedrich schleppte seinen Blick-Fang zu einem Bekannten, der, wie er sagte, über Beziehungen verfüge. Beziehungen — der Klang dieses Wortes verhieß noch intensivere Hilfe als Artist. Durch Beziehungen erhoffte er sich raschen, reibungslosen Übergang in die britische Zone und weiter in seine Heimatstadt Bremen. Friedrich war nicht der einzige Meyer, den es jetzt nach Hause drängte, um in vertrauter Umgebung einen neuen Anfang zu versuchen und später die Familie nach- kommen zu lassen.
    Geduld hatte man gelernt, Zeit spielte noch keine Rolle. Irgendwie ging es weiter. Irgendwann fand sich ein Weg, irgendwo. Irgendwer hatte irgendeinen Draht zu irgend- wem; mit irgend jemand machte man mit irgend etwas irgendwelche Geschäfte...
    Damals fielen die Entscheidungen nicht, sie schlichen sich ein. Ich ging vom Bahnhof zum Theater. Der Artist in mir lenkte meine Schritte. Es drängte mich zur Bühne. Irgendwie.
    »He! Get out of here!« Das feiste Gesicht paßte nicht zur Uniform; der Ton aber veranlaßte den Besiegten zur Umkehr. Das Theater war ziemlich heil geblieben und daher beschlagnahmt. Irgendwer kam und fing meine Enttäuschung in deutscher Sprache ab. Fotograf war er, irgendwie bei den Amerikanern beschäftigt, und hieß Kilian, vorne oder hinten. Oder so ähnlich. Wie sich herausstellte, kannte er irgend jemand , den ich kannte, und hatte irgendwo in der Nähe seine Wohnung in irgendeiner Villa. Mein Nachtlager war gesichert.
    Wir tauschten unsere Vorstellungen aus, wie es weitergehen würde, unsere Wünsche und die bescheideneren Hoffnungen. Zufälle mischten sich ein. Kilian kannte den Intendanten des ausgelagerten württembergischen Staatstheaters. Der hieß Karl-Heinz Ruppel, später lange Jahre Musikkritiker der Süddeutschen Zeitung in München, damals designierter oder schon resignierter Schauspielchef in Stuttgart. Anderntags sollte ich ihn kennenlernen.
    »Wenn Sie wollen, können Sie hier als Regieassistent anfangen«, kam der hagere, herzliche Mann sogleich zur Sache. Ich sehe noch das karg möblierte Parterrezimmer mit einer Wehrmachtsdecke als Tischtuch. Während ich passende Worte ordnete, lächelte er voll Verständnis dafür, daß ich nicht wollte. Ein junger Mensch dachte nicht in Arbeitsplätzen. Schon weil er davon nicht leben konnte. Diese Möglichkeit ergab sich erst bei gehobenen Stellungen. Mehr schlecht als recht. Keine Sicherheit tötete das Eigenleben. Die Versuchung, etwas zu tun, was man eigentlich nicht wollte, entfiel. Irgendwie würde es weitergehen. Auch so kann Freiheit aussehen.

    Bei Speck von mir und Obstler von ihm, erzählte Kilian in seiner Flohmarktwohnung vom Leben in der Großstadt. Das hieß, zu siebzig Prozent vom Essen. Alle Variationen über dieses deutsche Generalthema endeten bei der Besatzungsmacht, beziehungsweise bei deren Großmarkt, dem Pi Ex. Fotos im Profiformat belegten seine Schilderung. Mit großen Tüten im Arm, gleichsam zum ersten Schultag in
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