Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Seelenfänger

Titel: Der Seelenfänger
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
scherzten.
    Lincoln stand in dem eigens aufgebauten Regieturm, der das große Halbrund der Zuschauerbänke weit überragte. Unter ihm wogten die Menschenmassen. Auf dem Dach des Hauptgebäudes standen uniformierte Wächter mit Ferngläsern und Gewehren, und die spiegelnden Fensterscheiben der Büros zeigten Lincoln, daß über ihm auf dem Dach des Regieturms ebenfalls Bewaffnete patrouillierten.
    Direkt vor der Kirche befand sich die Plattform der provisorischen Bühne, unter deren brandneuem blauweißroten Leinwandbaldachin für die sechshundert Ehrengäste ausreichend Platz war. Lincoln blinzelte zu dem riesigen goldenen Kreuz hinauf, das zwischen den beiden Bürotüren hing. Die Schiebetüren der Scheinwerferbühne waren im gleißenden Sonnenlicht nicht zu erkennen. Lincoln starrte eine Weile hinauf, dann drehte er sich um und ging zurück ans Regiepult.
    Er stellte die Kamera Eins an, die außen am Regieturm, unmittelbar unter den überhängenden gläsernen Wänden, angebracht war. Im Monitor beobachtete er den Schwenk auf die Mitte des goldenen Kreuzes, dann holte er mit der Gummilinse die Schiebetüren so nahe heran, daß sie das ganze Bild füllten. Er fixierte die Kamera in dieser Position, kontrollierte noch einmal den Ausschnitt und stellte den Monitor ab. Plötzlich war er sehr müde. Er ging in die winzige Einbautoilette und sah in den Spiegel. Seine Augen waren schmerzlich geweitet, und in seinem Inneren war eine schreckliche Trauer. Er verriegelte die
    Tür, holte das Kokainfläschchen aus der Tasche und nahm zwei mächtige Prisen. Dann schraubte er die Flasche wieder zu, faltete ungeschickt seine Hände und senkte den Kopf. »Bitte, lieber Gott, laß es nicht zu!« sagte er mit geschlossenen Augen.
    Lincoln warf einen Blick auf die große Uhr im Regiepult. Sie hatten die Zeit genau eingehalten. Der Kreuzzug lief jetzt seit einer Stunde und vierundfünfzig Minuten, sechs Minuten noch bis zum Ende der Sendung, bis zum letzten Stichwort noch eine Minute. Soviel war jetzt schon sicher: Dies war der größte Gottesdienst aller Zeiten gewesen. Die Fernschreiber in der Sendezentrale tickten ununterbrochen, und alle Berichte sprachen von einem Riesenerfolg. Es schien, als ob Amerika endlich von der Liebe Gottes berührt worden sei. Preachers großer Traum war Wirklichkeit geworden.
    Lincoln stellte sich neben den Bildregisseur. »Ich werde den Rest übernehmen«, sagte er. »Sie sind doch sicher ganz groggy.«
    Der Mann nickte. »Danke. Ich bin wirklich hinüber. Außerdem muß ich unbedingt pinkeln, sonst platzt meine Blase.«
    Lincoln stülpte die Kopfhörer über. »Kamera Sieben bitte eine Großaufnahme von Randle«, sagte er ins Regiemikrofon. »Das ist der Mann mit der Sonnenbrille und dem weißen Anzug, gleich links neben der Kanzel.« Sofort erschien Randle auf einem der Monitore, hinter ihm die bullige Gestalt seines Leibwächters. Randle schien düster zu Boden zu starren, sein Augenausdruck war hinter der Brille nicht zu erkennen. Er schien sich nicht im geringsten für die Ereignisse auf der Bühne zu interessieren. Soeben war der Ansager wieder aus der Kulisse getreten.
    Lincoln warf einen Blick auf die Uhr. Noch dreißig Sekunden. Der Ansager war pünktlich. Als er auf dem Bildschirm erschien, begann das riesige, lächelnde Gesicht eines bekannten Evangeli-sten aus Kalifornien auf der gigantischen Projektionsleinwand hinter ihm zu verblassen.
    Lincoln schaute auf den Monitor hinüber, der ihm das Bild von Kamera Eins mit dem goldenen Kreuz lieferte. Der Ansager war jetzt auf Sendung. Mit geschulter Stimme vermeldete er: »Der Mann, dessen Glaubenseifer uns alle zu diesem großen Kreuzzug geführt hat, der Oberhirte der Kirche der amerikanischen Christen, Dr. C. Andrew Talbot ist lei -«
    Lincoln legte blitzschnell einen Schalter um und schnitt damit dem Sprecher das Wort ab. Einen Augenblick blieb alles dunkel, dann tauchte auf Lincolns Bildschirm das goldene Kreuz auf. Die Schiebetüren öffneten sich, und die Scheinwerferbühne glitt aus dem Inneren des Kreuzes heraus. Die Scheinwerfer waren auf ein zwei Meter hohes Holzkreuz montiert, das die Kabel und Reflektoren verdeckte. Ein Mann in einem weißen Gewand, das lose bis auf die nackten Füße herabfiel und nur durch einen weißen Strick zusammengehalten wurde, trat aus dem Schatten und bewegte sich langsam zur Mitte der Plattform. Nur beiläufig stützte er sich auf das Geländer.
    Ungläubig starrte Lincoln auf seinen Bildschirm. Die Haare
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher