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Der Seele weißes Blut

Der Seele weißes Blut

Titel: Der Seele weißes Blut
Autoren: Sabine Klewe
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gehorchte mechanisch, löste widerwillig ihre Hände von dem sicheren Stamm und taumelte los. Zurück auf den Weg.
    Irgendwo hinter ihr knackte es.
    Sie schrie.
    Zwischen ihren Schenkeln wurde es nass. Keuchend stürmte sie den Weg hinauf, so schnell, wie sie noch nie in ihrem Leben gerannt war. Die feuchte Hose klebte auf ihrer Haut, ihre Brust stach bei jedem Atemzug wie tausend Nadeln, ein seltsames, lähmendes Kribbeln wand sich ihre Beine hoch. Doch sie blieb nicht stehen.
    Erst vor der Haustür brach sie zitternd zusammen.

2

    Die Übelkeit überfiel sie, als sie an einer Ampel halten musste. Lydia Louis schluckte, um den Brechreiz zu unterdrücken, und schloss die Augen. Langsam zählte sie rückwärts. Zehn, neun, acht … Manchmal half es. Hinter ihren Schläfen pochte es, dafür beruhigte sich ihr Magen vorübergehend. Erleichtert atmete sie durch. Als sie die Augen wieder öffnete, war die Ampel auf Grün gesprungen.
    Lydia umklammerte das Lenkrad, gab Gas und versuchte, sich auf den Weg zu konzentrieren. Irgendwo hier musste sie abbiegen. Was hatte der Kollege über Funk gesagt? Nach dem Baumarkt die zweite Kreuzung links und dann auf die Landstraße. Das Pochen in ihrem Schädel verstärkte sich. Verdammt! Warum war sie nicht erst nach Hause gefahren? Sie hätte kurz duschen, sich umziehen und zwei Aspirin nehmen können. Auch wenn ihr Magen ihr Letzteres vermutlich übel genommen hätte.
    Schon von Ferne sah sie das blinkende Blaulicht. Sie schlug das Lenkrad ein und rollte langsam auf den holprigen Waldweg. Ein Kollege in Uniform trat auf ihren Wagen zu. Sie ließ die Scheibe herunter und kramte in ihrer Jacke nach dem Dienstausweis, doch das erwies sich als unnötig.
    »Guten Morgen, Frau Louis.« Er tippte sich in einer militärischen Geste an die Mütze. »Einfach dem Weg folgen. An der Gabelung links, danach sind es nur noch ein paar Meter. Ist nicht zu verfehlen.«
    Sie brummte ein Danke und schloss das Fenster. Hier im Wald war es noch dämmrig, Zweige knisterten unter den Reifen, ein Schatten huschte vor ihr über den Weg. An der Gabelung kam die Übelkeit wieder. Sie fluchte. Das würde ihr gerade noch fehlen, auf die Leiche zu kotzen! Es hatte sie Jahre gekostet, sich bei den männlichen Kollegen Respekt zu verschaffen, ihnen zu beweisen, dass sie eine gute Ermittlerin war, dass sie Instinkt hatte, Ausdauer und starke Nerven. Doch eine kleine Panne, ein winziges Aufblitzen weiblicher Schwäche, und die jahrelange mühevolle Arbeit wäre zunichte gemacht. Von dem Moment an, wo sie an einem Tatort ihr Frühstück ins Gebüsch spuckte, hätte sie ihren Spitznamen weg: »das Sensibelchen«, »unsere Zarte« oder einfach nur »die kotzende Lydia«.
    Funkstreifen, Notarzt und Leichenwagen tauchten vor ihr auf. Kreuz und quer parkten die Fahrzeuge auf dem schmalen geschotterten Waldweg. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Ohne allzu große Eile lenkte sie den Toyota hinter den BMW ihres Chefs und stellte den Motor ab.
    Bevor sie ausstieg, warf sie einen raschen Blick in den Rückspiegel. Glücklicherweise hatte sie einen Haarschnitt, dem man nicht ansah, ob sie frisch frisiert war oder drei Tage keine Bürste in die Hand genommen hatte. Sie fuhr sich mit den Fingern ein paarmal durch die dunkelblonden, kurzen Strähnen und kniff sich in die Wangen, um nicht so blass auszusehen. Kurz schloss sie die Augen und massierte ihre hämmernden Schläfen. Danach stieß sie mit einem Seufzer die Wagentür auf.
    Weynrath löste sich aus dem Gewusel, als sie über den knirschenden Untergrund lief. Er war einen halben Kopf kleiner als Lydia, von behäbiger Statur und wirkte immer ein wenig elektrisiert. Manchmal erinnerte er sie an den Schauspieler Danny de Vito, heute jedoch sah er eher wie einer von diesen Aufziehweihnachtsmännern aus, die Jingle Bells dudelnd über den Wohnzimmerteppich marschierten. Dabei trug er weder Bart noch einen roten Mantel.
    »Louis! Da sind Sie ja! Verdammt beschissene Sache.«
    Sie straffte die Schultern. »Was ist passiert?«
    »Leiche. Vermutlich weiblich. Da vorne auf der Lichtung. Kommen Sie mit!«
    »Vermutlich weiblich?«, fragte Lydia, während sie ihrem Chef durch das Unterholz folgte.
    »Warten Sie’s ab.«
    Sie gelangten an den Bereich, der mit Flatterband abgesperrt war. Gestalten in weißen Overalls huschten zwischen den Stämmen umher. Jemand machte Fotos. Überall im Boden steckten kleine Schildchen. Obwohl es inzwischen fast hell war, tauchten zwei riesige Scheinwerfer das
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