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Der Seele weißes Blut

Der Seele weißes Blut

Titel: Der Seele weißes Blut
Autoren: Sabine Klewe
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konnte sie laufen, bevor sie die Kinder wecken musste. Sobald die Rücklichter seines Wagens um die Straßenecke verschwunden waren, hatte sie sich in aller Eile umgezogen und war aus dem Haus geschlichen. In der Einfahrt hatte noch der Geruch nach Abgasen gehangen wie eine letzte Erinnerung an Philipps Präsenz.
    Plötzlich durchzuckte sie der Gedanke, er könne etwas vergessen haben und noch einmal zurückkehren. Ins Haus stürmen, sie überall suchen, die Kinder aus dem Schlaf reißen. Nein, er war noch nie umgekehrt. Sie durfte sich nicht verrückt machen. Vielleicht sollte sie ihm einfach erzählen, dass sie morgens gern eine Runde durch den Wald lief. Womöglich hatte er gar nichts dagegen. Warum sollte er auch? Joggen war schließlich vollkommen harmlos. Andererseits, wenn sie ihm nichts sagte, und er kam ihr auf die Schliche, konnte sie immer noch die Ahnungslose spielen. Ihm versichern, dass sie nicht gewusst habe, dass er es missbillige. Allerdings würde das seine Wut kaum eindämmen.
    Ellen erreichte die Gabelung unterhalb der großen Weide und bog nach rechts ab. Inzwischen hatte sich eine angenehme Wärme in ihrem Körper ausgebreitet, ihre Beine liefen wie von allein. Sie ließ ihre Gedanken schweifen, stellte sich vor, wie sie immer weiter rannte, aus der Stadt hinaus, durch mannshohe Maisfelder, dichte Laubwälder, fremde Dörfer und Städte. Weiter und weiter. Wie sie nicht zurückkehrte, ein neues Leben anfing. Einfach so. Sie würde sich Carola nennen. Als Kind hatte sie immer Carola heißen wollen. Carola war die Starke, die Mutige, die alles schaffte, was sie sich vornahm. Carola ließ sich von niemandem herumkommandieren, alle respektierten und achteten sie. Als Nachname wäre ein Allerweltsname am besten. Müller oder Meier. Dahinter konnte man sich gut verstecken. Müller oder Meier, das war wie eine Tarnkappe. Carola Müller. Das klang gut. Sie würde einfach behaupten, sie habe ihre Papiere verloren. Oder besser noch: ihr Gedächtnis. Carola Müller, die Frau ohne Vergangenheit. Die mutige, starke Frau ohne Vergangenheit. Der Gedanke gefiel ihr.
    Ellen hatte die kleine Holzbrücke am Bach erreicht. Von hier aus ging es im Bogen nach Hause zurück. Der Weg stieg leicht an, doch sie merkte es kaum. Sie kam in der Nähe der Landstraße vorbei, Autos rauschten her-an, nur durch das anschwellende Brüllen des Motors und das umherzuckende Licht der Scheinwerfer zu erkennen, und tauchten zurück ins Dämmerlicht. Endlich führte der Weg von der Straße weg, es wurde stiller, die Geräusche des Waldes, das Knacken der Äste und das leise Stöhnen der mächtigen Baumstämme, übernahmen wieder das Regiment. Ellen hörte ein Rascheln neben sich im Unterholz. Sie zuckte zusammen und beschleunigte ihre Schritte. Ein Reh brach aus dem Dickicht hervor, starrte sie einen Moment lang verschreckt an und verschwand behände zwischen den Stämmen auf der anderen Seite des Weges. Erleichtert drosselte Ellen das Tempo. Ihr war jetzt heiß, Schweiß stand kalt auf ihrer Stirn.
    Eine kleine Lichtung tauchte vor ihr auf. In der Mitte lag ein eigenartiges schwarzes Bündel. Ellen warf einen flüchtigen Blick darauf und rannte weiter. Vermutlich ein totes Tier, dachte sie. Aber schwarz? Sie stockte, stolperte und wäre beinahe gestürzt. Die Lichtung lag bereits hinter ihr. Sie zögerte, dann lief sie das kurze Stück zurück. Nur eben nachschauen, sagte sie sich. Sonst würde sie den ganzen Tag herumrätseln, was sie da wohl Merkwürdiges gesehen hatte.
    Dort lag es. Ein Tier war es nicht, das erkannte Ellen jetzt. Vielleicht eine Decke, die jemand liegen gelassen hatte, oder eine Jacke. Nein, es sah eher aus wie Fell. Langes dunkles Fell. Behutsam schlich Ellen näher. Eine unerklärliche Furcht lähmte mit einem Mal ihre Glieder und ließ jeden Schritt zu einem ungeheuren Willensakt werden. Unter dem schwarzen Fell schimmerte eine unförmige Masse. Braun. Oder Rot. Sie erinnerte ein wenig an einen Klumpen rohes Fleisch.
    Fleisch mit Haaren.
    Ellen stockte und presste die Hände vor den Mund. Ein Rauschen, das von überallher zu kommen schien, erstickte alle anderen Laute des Waldes, krabbelte wie ein Bienenschwarm in ihre Ohren, wo es zu einem unerträglich lauten Surren wurde. Sie wankte, stolperte rückwärts und stieß gegen einen Buchenstamm. Mit fahrigen Fingern tastete sie nach der Rinde und krallte sich daran fest.
    »Weg hier«, flüsterte eine Stimme tief in ihrem Inneren. »Weg! Nur weg!«
    Sie
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