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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes
Autoren: Michael Siefener
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Mistgabeln entgegenkam. Rasch waren sie entdeckt, und einer aus der Menge rief: »Da sind noch zwei Judenschweine! Los, machen wir sie fertig!« Und der Pöbel wurde schneller.
     
    Martin wirbelte herum und zog Maria mit sich. Sie rannten vor der Menge her. Mehrfach sah sich Martin um. Die anderen waren schneller. Sie schlossen allzu rasch auf.
     
    Etwas zischte durch die Luft und fiel klappernd neben ihnen auf das Pflaster. Eine Lanze.
     
    Eine Gasse tat sich rechts von ihnen auf. Sie stürmten hinein. Die Menge folgte ihnen, doch die Gasse war so eng, dass nur drei oder vier von ihnen nebeneinander herlaufen konnten. Es entstand ein Stau an ihrem Eingang, der Martin und Maria einen kleinen Vorsprung verschaffte.
     
    Eine weitere abzweigende Gasse. Rasch hinein! Die Gasse war gewunden wie ein Darm. Die Häuser schmiegten beinahe ihre Giebel aneinander. Lichtlose Finsternis. Leichen auf dem Pflaster. Eingetretene Türen. Aber hoch oben, in dem schmalen Spalt zwischen den Dächern: die Sterne. Und in einer größeren Lücke, verursacht durch ein in sich zusammengefallenes Haus: der Mond. Die Schwärze lag nicht mehr über der Stadt! Das gab Martin neue Kraft. Er zog die völlig erschöpfte Maria mit sich.
     
    Schuhgetrappel in dem Gassengewirr hinter ihnen. Aufgeregte Stimmen, summend wie ein Bienenschwarm. Martin stürmte in eines der Häuser; sie verbargen sich unter einer steilen Treppe. Bald donnerten draußen ihre Verfolger entlang wie eine Stierherde. Dann lief plötzlich ein Aufgrölen durch die Gasse: Der Pöbel hatte neue Opfer gefunden; Martin und Maria waren damit vergessen. Aber sie wagten es trotzdem nicht, aus ihrem unbequemen Versteck hervorzukriechen. Sie kuschelten sich so eng wie möglich aneinander, und Martin drückte einen Kuss auf Marias Stirn. Dann schliefen sie ein.
     
      
    Als sie am nächsten Morgen erwachten, war Martins Körper ein einziger Schmerzherd. Und er hatte brüllenden Hunger. Er küsste Maria wach; dann machten sie sich in dem Haus, in dem sie Unterschlupf gefunden hatten, auf die Suche nach etwas Essbarem. Schließlich fanden sie einen ganzen Brotlaib. Sie aßen sich satt daran.
     
    Später stahlen sie sich durch die verwüsteten Gassen des Ghettos. Jetzt, bei Tageslicht, wurde das ganze Ausmaß der Verwüstungen offenbar. Es gab wohl kein einziges Haus, das nicht Tote zu beklagen hatte. Über den Gassen hing ein schwerer Geruch von Blut und Exkrementen und versengtem Fleisch. Wie viel Schreckliches mussten die Juden denn noch erleiden, bevor ihnen der Messias zuteilwurde?, dachte Martin, als sie über die verstümmelten Toten hinwegstiegen und den Ausgang aus diesem verworrenen Gassenlabyrinth suchten. Er sah einen Juden auf der Straße liegen, dem man die Haut abgezogen hatte; mit ihr hatte man eine Jüdin erdrosselt, die neben dem Gehäuteten lag – vermutlich seine Frau. Konnte Martin überhaupt noch Christ sein, nachdem er all das hier gesehen hatte – nachdem er gesehen hatte, was seine Glaubensbrüder angerichtet hatten?
     
    Hunde schnupperten und stöberten zwischen den Leichen umher und stritten sich um die besten Brocken. Wenn sie sich fortschlichen – mit gebeugtem Kopf, als wüssten sie genau, was sie da taten –, kamen die Katzen und Ratten. Nur Knurren, Miauen und Fiepen sowie das Reißen von Fleisch und Stoff waren zu hören; ansonsten war es erschreckend still.
     
    Martin und Maria stolperten wie durch einen neuen Albtraum. Sie hielten sich aneinander fest und versuchten, sich die Tränen wegzuküssen. Schließlich kamen sie an eines der jüdischen Stadttore. Es war verwaist; niemand hielt sie auf, als sie hinüber in die Christenstadt gingen.
     
    Auch hier herrschte eine unheimliche Stille. Wie bei einem Kater nach einer feuchtfröhlichen Nacht , schoss es Martin in den Sinn. Sie befanden sich in einer Totenstadt. Es lagen keine Leichen auf der Straße, und trotzdem herrschte auch hier der Tod. Alle Fenster waren fest geschlossen, alle Türen verriegelt und verrammelt.
     
    Da hörten sie ein entferntes Knarren und Knirschen, das in der bedrohlichen Stille so laut wie das Donnern einer taumelnden Welt klang. Es kam beständig näher, und als Martin und Maria mit weichen Knien um eine Straßenecke bogen, sahen sie den Grund für dieses Geräusch.
     
    Es war ein Karren, der von zwei Pferden gezogen wurde.
     
    Sie kannten diesen Karren. Es war der Wagen der Schauspielertruppe.
     
    Zuerst wussten sie nicht, ob sie fliehen oder sich verstecken
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