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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes
Autoren: Michael Siefener
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sanften Schaukelbewegungen sehen konnte. »Und nun, alter Mann, wollen wir nacheinander heimgehen, ein jeder in sein eigenes Paradies. Du bist in gewisser Weise ein wahrer Messias gewesen.«
     
    Sie traten einige Stufen zu dem Hochsitz hinauf. Das Wesen wand sich nun leicht; es war, als strecke es winzige Fühler in alle Richtungen aus. Die schwarze Decke hob sich.
     
    Martin spürte eine Berührung in seinem Rücken. Er tastete nach hinten. Es war Maria. Sie drückte sich an ihn. Zusammen sahen sie sprachlos dem ungeheuerlichen Schauspiel zu.
     
    Die Schwärze zog sich in sich selbst zusammen und strömte in den Körper des Wesens auf dem Thron zurück. Schließlich war nur noch ein schwarzer Schlauch übrig, der zitternd und suchend durch die Luft schwankte. Er war so dick wie ein Pferdeleib. Plötzlich schoss er auf das Geschöpf herab, das die Hülle Federlins getragen hatte, und saugte diese auf.
     
    Was hatte Martin erwartet? Dass damit alles sein Ende gefunden hätte? Dann hatte er umsonst gehofft.
     
    Das Wesen hockte noch immer auf dem Hochsitz. Warum hatte es nicht auch Hilarius genommen? Martin wich langsam zurück, wobei er den Schlauch im Auge behielt. Maria blieb dicht bei ihm. Nur Hilarius stand reglos vor dem Wesen.
     
    Blitzschnell senkte sich der Schlauch auch auf ihn herab.
     
    Es ertönte ein Donnern, das Martin vorübergehend taub machte. Von einer Sekunde auf die andere verschwand das Wesen auf dem Thron, verschwand die Schwärze in der Synagoge, verschwand der Eindruck des Belebten in den toten Gegenständen.
     
    Und auch Hilarius war verschwunden.
     
        
     

39. Kapitel
     
    Es brannten nur noch wenige Fackeln und Kerzen in der Altneuschul. Die meisten waren durch die stoffliche Schwärze und den Sturm im Innern des Gebäudes gelöscht worden. Martin sah die nackte Maria an, die die Arme um sich geschlungen hatte und zitterte. Ihre Kleider lagen zerfetzt am Boden; außer dem Hemd war nichts mehr brauchbar.
     
    »Mir ist so schrecklich kalt«, jammerte Maria.
     
    Martin war froh, dass er sie hören konnte. Die Nachwirkungen des ungeheuren Knalls, mit dem das Wesen auf dem Hochsitz verschwunden war, verblassten, auch wenn es in Martins Ohren immer noch gehörig klingelte. Er bückte sich und reichte Maria das Hemd, das sie sich rasch überzog. Dann ging er hinüber zu der Stelle, an der der Graf lag.
     
    Unter ihm hatte sich eine Blutlache ausgebreitet. Martin rollte ihn auf den Rücken und schloss ihm die gebrochenen, glasigen Augen. Dann zog er ihm Wams und Hose aus und reichte beides Maria. Nach kurzem Zögern stieg sie in die Kleidungsstücke. »Wo sind … Hilarius und Federlin?«, fragte sie verstört. Sie machte den Eindruck, als sei sie gerade erst aus einem grässlichen Traum erwacht.
     
    »Fort«, antwortete Martin nur. Er kletterte die wenigen Stufen zu dem Hochsitz hinauf und legte die Hand auf den hölzernen Thron. Er war noch sehr warm, aber ansonsten verriet nichts mehr, was bis vor Kurzem auf ihm gehockt hatte. Er schüttelte den Kopf, als wolle er die Erinnerung an das vertreiben, was er in dieser Synagoge gesehen hatte. Hatte er es wirklich gesehen?
     
    Als habe Maria seine Gedanken gelesen, fragte sie: »Ist das alles wirklich passiert, oder haben wir es nur geträumt?«
     
    Martin drehte sich zu ihr um und deutete wortlos auf die Leiche des Grafen.
     
    »Aber all das andere … das Unverständliche …«, murmelte Maria. »Das alles kann doch nicht Wirklichkeit gewesen sein.«
     
    Martin stieg wieder auf den Boden hinunter und sah an Maria vorbei in die Schatten der Synagoge. »Es war Wirklichkeit, wenn wir unseren Sinnen trauen können«, sagte er langsam. »Aber ich weiß nicht, ob wir das können.« Er zog sein Büßerhemd mit einer energischen Bewegung glatt und fügte hinzu: »Wie dem auch sei: Jetzt ist es vorbei.«
     
    Dann hörte er den Lärm von draußen. Der Pöbel schien sich noch immer nicht beruhigt zu haben. »Wir müssen fort von hier«, sagte er hastig. Maria nickte. Sie nahmen sich bei der Hand und liefen hinaus in den lang gestreckten, niedrigen Vorraum. Auch hier war inzwischen alles normal; nichts mehr deutete auf jene seltsame Belebtheit hin, die Martin bei seinem ersten Eintreten so würgend deutlich gespürt hatte.
     
    Als sie durch das zersplitterte Portal hinaus in die Rabbinergasse schlüpften, sahen sie, wie ihnen aus der Richtung des jüdischen Rathauses eine Gruppe aufgebrachter Männer mit Schwertern, Lanzen und
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