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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
Autoren: Navid Kermani
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entwickelt eine ebenso umfassende wie radikale Kosmologie des Schmerzes, in der alle Erscheinungen der Welt und des Überweltlichen – ganz ähnlich wie in der Hebräischen Bibel oder im Koran – Zeichen sind, aber nicht Zeichen Gottes, Zeichen Seiner Barmherzigkeit, sondern Zeichen der Verzweiflung, Zeichen der Abstinenz Gottes und der schmerzenden Nichtigkeit des Weltenlaufs, der Seiendes nur in der Zertrümmerung zuläßt: «Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen?» fragt Nietzsche:
    Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?[ 11 ]
    Besonders die koranische Schöpfungsgeschichte, nach der Gott alles Leben auf der Erde, die Naturerscheinungen, ja die Geschichte, die menschlichen Empfindungen und sinnlichen Genüsse geschaffen hat, damit sie von ihrem Schöpfer künden, verkehrt Attar damit in ihr Gegenteil: Er hält fest am Zeichencharakter der Schöpfung, aber die Bedeutung dieser Zeichen ist für ihn negativ.
In drei Dunkelheiten, ein Same ohne Herz und Religion,
          Gepreßter Schlamm, in Brackwasser getaucht,
Wurd’ er geschlagen hin und her wie eine Kugel beim Spiel,
          Damit von Beginn an er die Verwirrung lerne.
Gewachsen im Blut, neun Monate lang,
          Nahm er zur Speis’ der Gebärmutter Blut.
Was ihm dort widerfuhr – frag’ besser nicht.
          Vom Leibe sprach ich dir, seine Seele – frag’ besser nicht.
Kopfüber stürzt’ er aus dem Schoß der Mutter,
          Nur damit er im Blut wieder lande.
Da schon sein Anfang aus Abwasser bestand,
          Erspar dir, auf Reinheit zu hoffen.
Ein Spielball, gewann er die Stöße lieb von hier und von dort,
          Soll heißen: zur Natur ward die Verwirrung ihm.
Neun Monate verbracht’ er im eigenen Blut,
          Soll heißen: Blut zu fressen, damit fängt alles an.
Kopfüber in die Welt geworfen, in Blut getränkt,
          Soll heißen: mit der Trennung beginnt es, mit der Verkehrung.
Tränend sucht’ er dann mit den Lippen die Milch,
          Soll heißen: weine, weil du von der Gattung der Säuger bist.
An die Brust gekrallt, sah er außer Schwärze nichts,
          Soll heißen: nun lebe, bitter und finster.
Als Kind rannt’ er, verweilte nie,
          Soll heißen: fern ist den Kindern der Seele Ruh’.
In der Jugend verging er, so fremd fühlt’ er sich,
          Soll heißen: nichts ist die Jugend als ein Pfad der Verirrung.
Alsbald ward ihm sein Verstand vom Alter quer,
          Soll heißen: erwart’ nicht Seligkeit dir vom närrischen Greis.
Ratlos sank er am Ende in sein Grab,
          Soll heißen: von reiner Seele fand er nie eine Spur. (0, 57f.)
    Der Wanderer schleppt sich zu den Propheten, zu Adam, Noah, Abraham, Mose, David und Jesus, aber erst Mohammed vermag ihm einen Wink zu geben: Nicht in der Welt, in sich selbst solle er suchen. Der Wanderer reist nun durch sein Selbst und gelangt über die Stationen der Sinneswahrnehmung, der Einbildungskraft, des Verstandes und des Herzens zu seiner Seele, die ihn belehrt, daß er vergebens den Kosmos durchquert habe, nur um endlich das Ufer ihres Meeres zu erreichen.
    – Was du gesucht hast, ist in dir, spricht die Seele und fordert den Wanderer auf, in ihrem Meer zu versinken.
    – O Seele, da du alles warst, warum ließest du mich erst so weit wandern? fragt der Wanderer noch, und die Seele antwortet:
    – Damit du meinen Wert erkennst. Dein Suchen, fährt die Seele fort, ist ein Suchen nach dir selbst gewesen.
    Die Erzählung endet damit, daß der Wanderer im Meer seiner eigenen Seele versinkt. Bis hier ging die Reise zu Gott, sagt der Dichter am Schluß; jetzt beginnt die Reise in Gott.
    Das ist die Rahmenhandlung in Attars großem Versepos. Offenkundig nimmt sie die Vorstellung der š afāa auf, der «Fürsprache» der Propheten und besonders des Propheten Mohammed. Einem Hadith zufolge suchen am Tag des Jüngsten Gerichts die Seelen nacheinander die Propheten im Himmel auf
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