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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
Autoren: Navid Kermani
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er sowenig voneinander unterscheiden wie das Sein vom Nichts oder das Ganze von seinen Teilen, das Gerade vom Krummen, den Körper von der Seele. Auf keine Vermutung mag er sich mehr einlassen, auf keinen Glauben, nicht einmal auf den Zweifel. Sein Herz: blind, seine Gefühle: betäubt, seine Augen: fest verschlossen, will er nichts mehr spüren und leidet darunter, nicht etwas, aber auch nicht nichts zu sein. Er kennt kein Glück – das Glück des Muslim sowenig wie dasjenige des Ketzers. Wohin er auch schaut, er sieht nur Elend, Lug und Trug. Nicht nur, daß es keinen wirklichen Islam gibt – nein, nicht einmal zum echten Unglauben reicht es in der Gesellschaft, die sich dem Wanderer darbietet: kein Rat bei niemandem, kein Geheimnis offenbar, kein Weg zu erkennen, und wenn es einen gäbe, bestünde er nur aus Gruben. Das göttliche Gesetz – die Scharia – beschränkt sich auf Beschuldigungen, die Philosophie auf unnützes Gehirnverrenken, dabei darben die Menschen zu Hunderttausenden in einer Welt voll Elend und immer neuen Kriegen, darin jeder jedem mißtraut, und ein jeder ist des anderen Wolf.
Der eine geht irre wie ein Schwein,
          Der andre legt Finten wie ein Fuchs.
Der eine macht’s wie der Elefant mit Gewalt,
          Der andre läuft wie ein Krabbeltierchen umher.
Der eine in Natur und Tat ein Hund,
          Der andere neunmalklug wie die Maus.
Der eine tappt in die Falle – für ein Korn,
          Der andre gart im Feuer und bleibt dennoch roh.
Der eine fleddert Leichen wie ein Geier,
          Der andere krächzt klagend wie ein Rabe.
Des einen Kummer schlägt um in Zorn,
          Des anderen Untat in den bösen Blick.
Richter der eine, schwanger mit der Macht,
          Wachtmeister der andre, trüb wie Monatsblut.
Löwe der eine, bläht sich auf zum Gebrüll,
          Wolf der andere, beißt kläffend ins Fleisch.
Krokodil der eine, verschlingt die Beute unzerkaut,
          Tiger der andere, reißt alles kurz und klein.
Der eine will schwimmen – doch japst als Fisch auf festem Land,
          Der andre will fliegen – doch hinkt als Rebhuhn durch die Luft.
          (0, 60)
    Und so geht es weiter: Der Dichter spricht vom Geiz der Menschen und ihrer Habgier, von ihrer Kälte wie ihrer Hitzköpfigkeit. Er beklagt Blindheit, Eselei, Verstellung und Neid. Die Menschen, sie quälen sich gegenseitig – und warum? Nur um von ihrer eigenen Verworfenheit abzulenken. Selbst die Lehrer und Gelehrten, weil auch sie nicht weiterwissen, tischen nichts als Lügen auf. Ein billiges Spektakel ist das Leben, gleisnerisch die Manieren der Menschen, aufgesetzt und lachhaft. Der eine fühlt sich prächtig, wie er groß daherredet, und merkt gar nicht, daß die anderen ihn wie ein Huhn im Käfig begaffen. Die Sufis gleichen den Kühen: Sie denken nur ans Fressen – dabei sehen sie mit ihren Turbanen aus wie Fasane! Die Großen sind nicht groß, die Helden ohne Mumm, jeder auf einem anderen Irrweg: die Gläubigen der verschiedenen Religionen, die Philosophen, die Nihilisten, nicht zu reden von den Dummschwätzern. Niemand, der nicht einen anderen nachäffte. Die religiöse Engstirnigkeit wurde zur Norm erklärt, die Wortklauberei zur Theologie, die Verschlagenheit zur Logik. Kurzum: Es sieht nicht gut aus. Und der Wanderer ist mittendrin, schwimmt wie alle anderen Menschen in diesem brodelnden Ozean, der sich Welt nennt, um nichts besser, schlauer, edler, nur daß er sich einer einzigen Tatsache bewußt ist: seiner unrettbaren Ratlosigkeit. Auch ihretwillen erwähnte ich Pascal:
    Ich weiß nicht, wer mich in die Welt gesetzt hat, und auch nicht, was die Welt und ich selbst sind; ich bin schrecklich unwissend in allen Dingen; ich weiß nicht, was mein Körper, meine Sinne, meine Seele und selbst jener Teil meines Ichs sind, der denkt, was ich sage, der über alles und über sich selbst Betrachtungen anstellt und sich nicht mehr als das übrige erkennt.
    Ich sehe diese entsetzlichen Weiten des Weltalls, die mich einschließen, und ich finde mich an einem Winkel dieses gewaltigen Raums gefesselt, ohne daß ich weiß, warum ich an diesem Ort und nicht vielmehr an einen anderen gestellt bin und warum diese kurze Frist, die mir zu leben gegeben ist, mir gerade zu diesem Zeitpunkt und nicht vielmehr zu einem anderen der ganzen Ewigkeit, die auf mich folgt, bestimmt ist. Ich sehe
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