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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
Autoren: Navid Kermani
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revolutionär seine Verse anmuten, hält immer am Prinzip der Unterwerfung fest, die das aufrührerische Moment im Sinne traditioneller Lehren wieder einholt.
    Der Wanderer zieht weiter zum Engel Esrafil, der die Menschen mit einem Posaunenstoß tötet und mit dem zweiten wiedererweckt, und bittet darum, entweder erweckt oder getötet zu werden. Aber Esrafil sagt, er selbst erwarte sein Schicksal mit Zittern, mit der Posaune im Mund stehe er still und trauere um jede Seele, die er mit seinem Posaunenstoß auslösche. Er schickt den Wanderer fort, um selbst mit der Trauer ungestört fortfahren zu können.
    Die übrigen Engel weisen den Wanderer ebenfalls ab. Michael, der die Schlüssel zu den Schatzkammern der Schöpfung bewahrt, erklärt anhand der Wettererscheinungen seine Not: So ist der Blitz die Zuckung seines schmerzerfüllten Herzens, der Wind sein Stöhnen, Regen und Schnee die Tränen des Engels. Noch schlechter geht es dem Todesengel Azrail, den der Wanderer anfleht, ihm das Leben zu nehmen, damit sein Herz erweckt werde.
    – Wenn du von meinem Schmerz wüßtest, würdest du mich nicht um solches bitten, antwortet der Engel.
Seit hunderttausend Jahren zerr’ ich, Tag und Nacht,
         Die Seelen aus den Leibern, eine nach der andern.
Für jede Seele, die ich niederreiße,
         Bricht eine Wunde an mir selber auf.
So viele hab’ ich hingerafft, daß tropfenweise
         Mein Herz sich leerte, bis nichts mehr davon blieb.
Wem hat man getan, was man mir antat?
         Viel hundert Welten Blutschuld auf dem Nacken.
Sobald du eine meiner hundert Ängste wüßtest,
         Du würdest prompt zu Staub zerfallen. (4/0, 88)
    Der Wanderer, höhnt Azrail, möge weiterziehen und weiter seine Wehwechen beklagen:
    – Ein Mann des Weges bist du nicht.
    Um die Engel, die den göttlichen Thron tragen, ist es nicht besser bestellt. Auf den Schultern tragen sie die übermächtige Last, dabei gähnt unter ihren Füßen die Leere. Sie müßten ächzen vor Anstrengung, müßten am ganzen Leib zittern aus Furcht, die Last nicht mehr tragen zu können.
    – Aber wenn sich, so ruft einer der Thronträger Gottes aus seiner unbequemen Stellung, wenn sich nur eine Faser meines Körpers regte, stürzt’ ich in die Tiefe, so unsicher ist mein Stand. (5/0, 96)
    Der Wanderer verläßt nun die Engel, er zieht weiter zum Thron, zum Fixsternhimmel, zur himmlischen Tafel und dem Schreibrohr, aber niemand kann dem Wanderer helfen, jeder ist noch verlorener auf der nach oben offenen Skala des Unglücks. Selbst das Paradies beschwert sich: als ob es die Gerechten wären, die darin Einlaß gefunden hätten! In Wirklichkeit ist das Paradies, so sieht es sich selbst, ein von Einfältigen bewohntes Jammertal. Der äußere Anschein trügt:
    – Du siehst die Schönheit der Kerze, aber daß die Kerze selbst einsam verbrennt, das siehst du nicht. (10/0, 132)
    Und so geht es weiter und immer weiter: Die Hölle ist es müde, die Menschen nur zu quälen und zu verbrennen, brennt sie doch selbst vor Furcht, einst zu vergehen, die leuchtenden Sterne entpuppen sich als glühende Kohlen, und der Himmel trägt am Tag die blaue Farbe der Traurigkeit, während er sich nachts im schwarzen Wasser versteckt. Der Himmel ist vor lauter Suchen blutig wie das Morgenrot, aus schwarzem Teer ist sein Gewand, der Kopf dreht sich ihm, er weiß nicht ein noch aus. Die Sonne ist gelb vor Leid und Liebesschmerz. Der Mond, das Gesicht vor Gram und Tränen ganz pockig, glaubt, daß alle Welt ihn verlacht, weil er so dünn ist. Das Feuer, das beständig Asche auf dem Haupt trägt; der Wind, der vergeblich in allen Türen und Ecken der Welt umherirrt; das Wasser, das aus nichts als Tränen besteht und sich nach dem Feuer sehnt; die Erde, die sich über den Moder beschwert, weil man die Toten in ihr ablädt; der Berg, der sich schämt, ein Herz aus Stein zu haben, und fortlaufen möchte, aber an den Füßen gefesselt ist; das Meer, dem vor Scham der Schweiß ausbricht und das selber am meisten dürstet; die Kaaba, die das schwarze Gewand der Trauer trägt; die Pflanzen, die jeden Sommer verwelken, kaum daß sie im Frühling endlich erblüht sind, und also jeden Sommer in ihrer Hoffnung zu dauern enttäuscht werden; die verschiedenen Tiere, der Satan, die Geister, die Menschen – sie alle antworten auf das jammervoll-hoffende Ansinnen des Wanderers mit einer herzzerreißenden Elegie auf ihr eigenes Elend. Attar
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