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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
Autoren: Navid Kermani
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Rezeptionsvorgänge zwischen Kulturen lassen sich nicht auf die Lektüre von Texten beschränken. Selbst wenn keine der Übersetzungen, die in Umlauf waren, ihn je erreicht hätte, stand Dante wie seine Zeitgenossen unter dem Eindruck der arabischen Kultur, in der die Themen und Ideen der Himmelsreisen weit verbreitet waren.
    Auch wenn Dante nie von Attar gehört haben dürfte, sind die vielen Ähnlichkeiten seiner «Göttlichen Komödie» mit dem «Buch der Leiden» oder auch al-Maarris «Sendschreiben» also nicht zufällig, beziehen sich doch alle drei auf einen gemeinsamen literarischen Topos und zum Teil auf die gleichen Quellen. So wie Attar die Himmelsreise sufisch umgedeutet hat, hat Dante den islamischen Stoff noch in seinen Details christlich nachgebildet. Dantes Werk ist dabei in seinen orientalischen Elementen mehr als eine bloße Übernahme; die «Göttliche Komödie» läßt sich geradezu als Reaktion auf jene Elemente der arabischen Kultur lesen, deren Einfluß Dante für besonders gefährlich hielt: die Häresie des Averroismus und die Poesie allzu selbstbezogener Liebe. Dantes Himmelsreise liest sich oft wie ein regelrechter Anti miāg, der die Falschheit des Islams und die Überlegenheit des christlichen Glaubens demonstrieren soll. Wie kaum ein anderer Text ist Dantes «Göttliche Komödie» damit die Schnittstelle zugleich für die Aufnahme der arabisch geprägten Kultur in Europa und die Reaktion gegen sie.[ 18 ] Gerade im Vergleich mit der «Göttlichen Komödie» werden allerdings auch der gewaltige Themenradius im «Buch der Leiden» und die Feinheit der poetischen Struktur um so überraschender sichtbar, Attars radikale Negation alles irdisch Bestehenden und theologisch Verheißenen wie auch seine humanistische Weite. Geradezu frömmlerisch erscheint Dante, entdeckt man seinen Vorläufer.
    Vielgestaltig sind die Motivketten, die sich ineinandergeflochten durch die Dichtung Attars ziehen. Viele verdienten eine eigene Abhandlung, denn «Das Buch der Leiden» entwickelt nicht nur eine Kosmologie des Schmerzes, sondern ist selbst ein Kosmos von Themen, Geisteshaltungen und Ideen. Es beklagt nicht nur den Schrecken Gottes, sondern besingt zugleich dessen Unendlichkeit, Pracht und Größe, wie überhaupt im «Buch der Leiden» völlig unterschiedliche, zum Teil widerstreitende Motive nebeneinander bestehen. Es wäre falsch, sie zu einer Synthese zu verbinden: Die Aussagen sind wahr in ihrem poetischen Zusammenhang – auch darin zeigt sich, daß Attar im Kern ein Dichter ist, kein Theoretiker. Die innere Disparatheit bei einheitlicher, geschlossener äußerer Form ist gerade ein Grundmerkmal der drei großen Epen Attars, das nicht zuletzt durch den Wechsel zwischen der fortlaufenden Rahmenhandlung und den Einzelgeschichten entsteht.
    In den Hauptstrang einzelne Fäden von anderer Farbe einzuflechten ist eine grundsätzliche Erzählstrategie orientalischer Literaturen, die ihren Ursprung auch dort nicht verbirgt, wo sie in Europa wiederkehrt, in «Don Quijote», in der «Göttlichen Komödie», im «Dekameron» oder auch in den Alice-Büchern von Lewis Caroll (gest. 1898). «Mit Geschichten, die innerhalb anderer Geschichten enthalten sind, läßt sich ein seltsamer, beinah unendlicher Effekt erzielen, dem eine Art Schwindel eigen ist», hat Jorge Luis Borges in einem Vortrag über «Tausendundeine Nacht» gesagt und jene westlichen Autoren aufgeführt, die das arabische Prinzip «imitiert» hätten.[ 19 ] Auch dem Erzählen des Korans ist es zu eigen. Vor allem einige längere Suren, die Josefs-Sure ebenso wie die Sure «Die Dichter», verlassen ihre Handlung im Abstand einiger Verse, heben das Vorgetragene auf eine andere, meist lehrhafte Ebene oder wechseln zu einem anderen, scheinbar zusammenhanglosen Motiv, zweigen ab, um kurze Zeit später wieder in den Hauptstrom der Rezitation zurückzugleiten. Noch deutlicher kann man dieses narrative Prinzip in den jüdischen Midraschim beobachten, bei denen sich um jede interpretierte Stelle zahlreiche Geschichten ranken. Es ist also über die literarische Sphäre hinaus im gesamten nahöstlichen Kulturraum verbreitet.
    In der persischen Prosa ist die Form der Rahmenerzählung durch «Kalila und Dimna» heimisch geworden, die Übersetzung des indischen Fürstenspiegels Pančatantra. Auch die Erzählung des weisen Prinzenlehrers Sindbad, das Sendbādnāmeh, die Geschichte der sieben Wesire oder Meister, das Marzbānnāmeh, und endlich, formal allerdings
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