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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
Autoren: Navid Kermani
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Zwischen Leben und Tod bleibt exakt so viel Raum für Versöhnung wie in den großen ästhetischen Entwürfen der Moderne, der Dichtung Kafkas (gest. 1924) und Pessoas (gest. 1935), der Philosophie Adornos und Benjamins (gest. 1940). «Ohne den Gedanken an die Wahrheit und damit an das, was sie verbürgt, ist kein Wissen um ihr Gegenteil, die Verlassenheit des Menschen», formuliert Max Horkheimer eine spezifisch moderne Idee der Ästhetik, die im «Buch der Leiden» hervorscheint.[ 20 ] Auch in den Erzählungen Sadeq Hedayats, um einen modernen iranischen Autor anzuführen, findet sich die im 20. Jahrhundert immer wiederkehrende Denkfigur, die ich meine: an der prinzipiellen Möglichkeit von Erlösung festzuhalten, aber nur als einer Leerstelle, als dem Anderen zum Bestehenden. Der Marsch durch die Weiten der eigenen Seele, den Hedayat in der «Blinden Eule» unternimmt, hat etwas von der vierzigtägigen Reise des Mystikers ins Innere, die sich ähnlich wie bei Attar als Horrortrip erweist. Und doch sprechen beide «den Traum einer Welt aus, in der es anders wäre»,[ 21 ] wie Adorno es prinzipiell für das Gedicht behauptet. Wo dieser am minimalen Glücksversprechen festhält, «das an keinen Trost sich verschachert»,[ 22 ] gibt auch Hedayat in einem programmatischen Aufsatz das Utopische der Kunst nicht restlos auf: «Aber so vollkommen die Katastrophe ist, bleibt doch eine kleine Öffnung, von der nicht klar ist, ob in ihr noch Hoffnung übrig oder sie für immer aus ihr verschwunden ist.»[ 23 ]
    Hedayat beharrt darauf, daß ein Anderes existieren könnte, ohne damit zu trösten, daß es wirklich existiert, und ohne auszusprechen, worin es bestünde. Gleichzeitig aber weiß Hedayat, daß es keine Kunst gäbe ohne die Hoffnung auf ein Anderes. Nicht mehr Hoffnung ist im «Buch der Leiden». Attar verlegt die Erlösung keineswegs ins Jenseitige, im Gegenteil: Vom Tod erwartet er noch schlimmere Qualen. Er sagt nur: In uns selbst, da könnten wir uns finden, da wären wir mit uns gleich, da wäre Frieden, Seelenruh’. Aber was das ist: sich selbst zu finden, das bleibt ohne Hinweis, da Attar nur die Reise zur Seele beschreibt, nicht die Reise in der Seele. Das Hadith der Fürsprache, auf das sich die Rahmenhandlung bezieht, deutet er an der entscheidenden Stelle um, da er Mohammed keine Lösung bringen läßt, sondern lediglich den Hinweis, in sich selbst, statt in der Welt zu suchen. Attar beharrt also auf der prinzipiellen Möglichkeit der Erlösung, aber er versagt sich jede Andeutung, wie sie aussähe, wie sie sich anfühlte, worin sie bestünde: die Glückseligkeit. Aber nicht nur bleibt das unbestimmt; er schließt vor allem für sich und alle gewöhnlichen Menschen das Glück des Findens am Ende des Buches aus, nicht anders, als er es am Anfang getan hat.
Alles ist eins, allein, ich kenne es nicht.
          Wenn es einen Weg gibt – ich kenn’ ihn nicht.
Je länger der Mensch geht, desto ferner rückt sein Ziel,
          Verirrt ist er, von Stund’ zu Stund’ mehr.
Über die Ewigkeit hinaus will der Weg gegangen sein,
          Muß waten die Menschheit durch Blut. (0, 9)
    Die Wendung ins Utopische, mit der die Reise des Mystikers nach Innen endet, vollzieht sich durch genau dieses doppelte Paradox: an der Idee der Versöhnung festzuhalten, aber sie erstens um ihrer selbst willen nicht zu benennen und zweitens ihre Verwirklichung in der realen Geschichte praktisch auszuschließen, indem Attar sie den Heiligen vorbehält. Die beinah unangenehm grelle, jedenfalls kaum tröstliche Aufhellung im vierzigsten Kapitel wird in ihrer Eigentümlichkeit, aber auch in ihrer Modernität vielleicht besser verständlich durch Adornos Reflexionen über Gustav Mahler (gest. 1911). Die affirmativen Finalsätze von Mahlers düsteren, leidzerrissenen Symphonien wirken ähnlich fremd und unpassend wie die Auflösung im «Buch der Leiden». Nicht anders als Attar im «Buch der Leiden» war Mahler «ein schlechter Jasager», wie Adorno bemerkte. «Seine vergeblichen Jubelsätze entlarven den Jubel, seine subjektive Unfähigkeit zum happy end denunziert es selber.»[ 24 ] Die Versöhnung selbst ist nicht aufgegeben, wohl aber die Hoffnung, sie zu erlangen, das ist der Übergang zur Moderne, der Unterschied zu Beethoven. Ja, es gibt eine Tür, und wer weiß, was dahinter steckt, aber «wir alle bleiben draußen wie der Türklopfer», sagt Attar an anderer Stelle, im «Buch der
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