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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
Autoren: Navid Kermani
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recht statisch, in «Tausendundeiner Nacht». Zur Vollendung gebracht hat diese poetische Struktur Attar. In seinen drei großen Versepen besteht die Rahmenhandlung aus einer fortlaufenden, dynamisch sich entwickelnden Erzählung, die weit mehr ist als der Ring, der einen bunten Strauß von Geschichten zusammenhält. Immer bezieht sich die einzelne Geschichte auf die Stelle der Rahmenhandlung, an der sie erzählt wird, ist sie Variation des Motivs, sein Kommentar oder sogar Widerspruch. Da die Einfügungen einerseits stets mit der Rahmenhandlung korrespondieren, andererseits oft aus winzigen Episoden, manchmal nur aus drei, vier Zeilen bestehen, die überraschend einzustreuen Attar sich alle Freiheiten nimmt, ist er in seinen Kompositionen zugleich streng formal und dynamisch. So entstehen komplexe, scheinbar organisch gewachsene Gefüge, in denen jede Zelle mit der nächstliegenden verwoben ist – und dennoch für sich atmet. Unterschiedliche oder sich offen widersprechende Deutungen desselben Motivs sind hier keine Ausnahme. Die Frömmigkeit und Gottes Lobpreis an einzelnen Stellen nehmen der Klage und Anklage nichts von ihrer Wirkung, und umgekehrt.
    Wenn ich mich in meiner Lektüre auf das rebellische Moment im «Buch der Leiden» konzentriere, mache ich mich zwangsläufig einer gewissen Einseitigkeit schuldig. Andererseits meine ich für diese Akzentuierung eine starke Berechtigung in Attars Text selbst zu finden, herrscht darin doch trotz einzelner Aufheiterungen und mancherlei Didaktik insgesamt die Schwärze vor. Was Scholem den konservativen Aspekt der Mystik nennt, der so gut wie immer einhergeht mit dem revolutionären, ist im «Buch der Leiden» – anders als in den übrigen Epen Attars – beinah nachlässig ausgeführt. Um nur die Antworten des Pirs zu nehmen, so wirken sie fast immer blaß und unwillig, zumal angesichts der Dramatik der Unheilsschilderungen, auf die sie reagieren. Kaum eine Metapher oder sprachliche Wendung des Pirs ist so eindringlich, daß sie in Erinnerung blieb. Mag sein gottgefällig-predigender Ton dazu dienen, die Ungeheuerlichkeiten erträglicher wirken zu lassen, mit denen Attar Vernunft und Gerechtigkeit der göttlichen Schöpfung in Abrede stellt, so sind seine Einwürfe gleichzeitig zu knapp und allgemein, als daß sie die theologische Unbotmäßigkeit der Klagen wirklich überdecken könnten. Nicht um die Antworten des Führers geht es Attar, sondern um die immer neuen Fragen des Suchenden, die von den Antworten vielleicht auch deshalb immer neu angeregt werden, weil diese sich als unzureichend erweisen. Attar legt alles Gewicht seiner poetischen Phantasie auf die Verwirrung des Suchenden und die qualvollen Ansichten, die sich im Laufe der Reise auftun. Seine Seelenreise ist eine Fahrt mit der Geisterbahn, die auf einzelnen Geraden erlaubt aufzuatmen, aber hinter jeder Kurve neues Unglück birgt. Ich verfolge also keinen nebensächlichen Aspekt, wenn ich am «Buch der Leiden» jenes Extrem an Verzweiflung herausstellen möchte, in dem sich der Mensch gegen seinen Schöpfer wendet. Die versöhnlich scheinende Wendung am Ende darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es Attar um die Pein des Daseins zu tun ist, angesichts derer das Nichts verlockend wirkt. Sein Buch ist ein «Buch der Leiden», so wie es im Titel heißt. Jener Gott, der dem Gläubigen näher als die Halsschlagader sein soll, ist darin fern. Es gibt ihn, aber Er ist fern. Im besten Falle.
    Wendung ins Utopische
    Wohl mag man, liest man das letzte Kapitel, zunächst den Eindruck gewinnen, die Negativität des Vorangegangenen sei glücklich verflogen, das Leiden gerechtfertigt, des Dichters fromme Reputation gerettet; man mag erleichtert sein, weil der Wanderer am Ende seine eigene Seele findet. Mindestens verwundert einen die Lektüre des vierzigsten Kapitels, man kann es mit den anderen neununddreißig nicht recht zusammenbringen. Der Dichter scheint das bisher Gesagte mit einem Streich auf den Kopf gestellt zu haben (oder auf die Füße, betrachtet man es aus orthodoxer Sicht). Gleichzeitig aber wirkt diese Auflösung merkwürdig aufgesetzt; schon die Sprache bekommt einen hymnischen Ton, der zu schrill klingt, um das Schlußkapitel als das Happy-End einer traurigen Geschichte zu lesen, als das Telos, auf das die anderen neununddreißig Kapitel zulaufen. Vielmehr drängt sich beim ersten Lesen der Eindruck auf, daß Attar aus durchsichtigen Motiven mit einer Versöhnung geendet hat, um die Provokation des
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