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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
Autoren: Navid Kermani
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Buches zu bemänteln. Doch der Eindruck täuscht.
    Daß das vierzigste Kapitel die Verzweiflung der neununddreißig vorangegangenen nicht aufhebt und das hoffnungsfroh scheinende Ende die Düsterheit des Werkes nicht aufhellt, wird erkennbar, sobald man weiterliest. Dann verfliegt auch der Verdacht des Apologetischen. Das Buch enthält einen langen Epilog. Da spricht der Dichter, weiterhin unterbrochen von Geschichten, über sich und sein Werk. Wie es die Dichter jener Zeit zu tun pflegten, lobt er zunächst sich selbst und stellt fest, daß er nicht für die Allgemeinheit schreibe, zumal nicht mit diesem Buch. Das Lob weniger Kluger zähle ihm mehr als der Beifall der Masse. Zur Illustrierung erzählt Attar eine Anekdote von Platon, der in Tränen ausbricht, als er hört, daß ein gewisser Mensch ihn gelobt habe.
    – Warum freut Ihr Euch denn nicht? fragt der Überbringer der Nachricht verblüfft, und Platon antwortet, daß das Lob leider von einem Tölpel stamme.
    – Wenn ich nur wüßte, was ihm an mir gefallen hat, würde ich mich davon abkehren. (E3, 369)
    Attar fährt fort, daß er solche Dinge wie in dem vorliegenden Buch besser nicht gesagt hätte; es sei unmöglich, sie in Worten auszudrücken – worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schon bei Attar schweigen, und so erscheint dem Dichter sein ganzes Schaffen als vertane Müh’:
Weh, weh! Schier alles, was ich schrieb, war nichts,
          Mein Auge blind, verschlungen alle Wege. (E3, 369)
    Es folgen Geschichten und Sprüche, die wortreich das Lob der Verschwiegenheit singen: Um weise zu reden, zitiert Attar einen Frommen, sei schon viel Verstand vonnöten, aber damit ein weiser Mann verstumme, dürfe sein Verstand kein Maß kennen. Platon hat die höchste Stufe der Vollkommenheit erreicht, als er den ratsuchenden Alexander (gest. 323 v. Chr.) anschweigt, und Aristoteles (gest. 322 v. Chr.) antwortet auf die Frage, welcher Schuldlose das Gefängnis verdiene: Der, welcher von den Zähnen eingesperrt ist – die Zunge. Bis dahin bewegt sich das Schlußwort noch im Rahmen der Konvention, das vierzigste Kapitel hat Bestand. Aber dann, mit einem Mal, bricht es aus dem Dichter heraus. Plötzlich schreibt, nein, schreit er förmlich, daß er nicht fähig sei, an sich zu halten, weil ihn die Liebe trunken gemacht habe, sehnsüchtig und elend. Wollte Gott, daß seine Seele ruhig wäre, damit er endlich für immer schwiege – allein, er könne es nun einmal nicht, gehöre er doch nicht zu den Vertrauten Gottes, zu den Heiligen, den Geheimniswissern (jenen also, die hoffen dürfen, wie der «Wanderer des Denkens», die vierzigste Station der Versenkung je zu erreichen). Er könne einfach nicht aufhören zu reden, der Schmerz presse ihm die Verse aus den Fingern. So erhebt sich Attar zur Verblüffung des Lesers gegen seine eigene, eben kurz zuvor vorgebrachte Lehre vom Vorzug des Schweigens:
Fortan werd’ ich sprechen, ohne zu bedenken.
          Zu schweigen habe ich Gelegenheit im Grab lang genug.
          (E10, 372)
    Dann spricht Attar von seinem bevorstehenden Tod und bittet den Leser, an sein Grab zu kommen und um ihn, Attar, zu weinen.
Dort sprech’ ich zu dir mit verzückter Zunge,
          Dort mußt du ertauben, um die Stimme zu hören des Stummen.
Wirst du meinen Durst spüren, wenn ich begraben liege?
          Reich’ Wasser mir, aus reiner Träne einen Tropfen nur.
O wär’ ich nie geboren, weh! Und wäre ohne Namen!
          Und wäre nie in diesen Trubel hier geraten!
Wem immer bevorsteht, was mir vor Augen steht,
          Blut müßt’ er weinen, und hätt’ er hundert Herzen.
Alle Seelen zusammen, die widerständigsten aus hundert Welten:
          Vor dem Grab verzweifeln sie alle, müssen strecken die Waffen.
          (E10 373)
    Die letzten Geschichten sind geprägt von dieser Stimmung: keine Aussicht auf Erlösung, keine Hoffnung auf Erbarmen. Damit ist der Ausgang der Rahmenhandlung keineswegs revidiert – aber der Epilog wendet ihn ins Utopische. Es gäbe Erfüllung, Erlösung, Glück, wie immer man es nennt (Attar nennt es nicht), an der prinzipiellen Möglichkeit hält «Das Buch der Leiden» fest, man könnte im Meer der Seele versinken, es existiert – jedoch wird der Dichter nie an des Meeres Ufer gelangen, und kein gewöhnlicher Mensch, nicht in dieser Welt und schon gar nicht im Tod. Wo also dann?
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