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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
Autoren: Navid Kermani
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Ameise» (1/0, 66) – zur ersten Station seines Weges.
    Dort ist der Erzengel Gabriel. Der Wanderer lobpreist ihn, bevor er klagt, hilflos zu sein, in die Welt geworfen ohne Haupt und Fuß; ob er, Gabriel, ein Mittel gegen den Schmerz wüßte. Gabriel indes bescheidet dem Wanderer, sich in einem noch viel schlimmeren Zustand zu befinden, er solle gar nicht erst in seine Nähe kommen, denn niemandem könne er von dem Schrecken (heybat) erzählen, dem er ausgesetzt sei, dem Schrecken des Einen, dessen Namen er aus Furcht nicht auszusprechen wage:
    – Niemand ertrüge es zu hören, was ich mit jedem Atemzug ertrage.
    Ohne Antwort schickt Gabriel den Wanderer fort:
    – Geh schon, uns ist der eigene Schmerz genug! (1/0, 67)
    Zum Schluß des ersten Kapitels kehrt der Wanderer zurück zum Pir, der das Erfahrene kurz deutet und den Wanderer über die Eigenheiten und Vorzüge des soeben Besuchten belehrt. Gabriel, so erfährt der Wanderer, mußte eine lange Strecke zurücklegen, mußte siebzigtausend Jahre warten, bis er es wagte, Gott überhaupt nur anreden zu dürfen – wie er, der Wanderer, sich erkühnen könne, mir nichts dir nichts von Gott zu sprechen.
    Wie in diesem ersten kehrt der Wanderer am Ende aller weiteren Kapitel zu seinem Pir zurück, der ihn über das Erfahrene belehrt und immer wieder die Reden theologisch zurechtrückt, die der Wanderer auf seiner Reise hört. Die Funktion des Meisters ist zunächst ganz praktisch zu verstehen, insofern «Das Buch der Leiden» den Ablauf der vierzigtägigen Klausur eines Mystikers in poetischen Bildern nachzeichnet. Für den Meditierenden gilt ein Begleiter und Führer als unverzichtbar, mag er auch nur als Eingebung erscheinen, als Traum, nicht als reale Person. Zugleich bestätigt die Figur des Pirs im «Buch der Leiden» aufs genaueste die Beobachtung Gershom Scholems, daß «alle Mystik zwei fundamentale, im Widerspruch miteinander liegende oder sich ergänzende Aspekte hat: einen konservativen und einen revolutionären».[ 6 ] Die Suche des Mystikers vollzieht sich innerhalb einer bestimmten Tradition und bestätigt deren Autorität; zugleich verwandelt er den Sinn jener Tradition, aus der heraus er lebt: «Die Anerkennung des unverändert gültigen Sinns der traditionellen Autorität ist der Preis, den die Exegese des Mystikers für ihre Verwandlung des Gehalts der Texte zahlt.»[ 7 ]
    Zwar ist der Mystiker durch seine Erziehung und Ausbildung auf ganz selbstverständliche Weise von traditionellen Anschauungen und Symbolen bestimmt und fühlt sich diesen zugehörig; gleichwohl waren sich die Sufis, Kabbalisten, Yogis ebenso wie die katholischen Mystiker des Mittalters bewußt, daß die mystische Erfahrung ihrer Natur nach den Kanon religiöser Anschauungen durchbricht, sich sogar gegen diesen Kanon wenden kann, ihn auf der Grundlage der neuen, zuvor nicht für möglich gehaltenen Einsichten durch einen neuen Kanon ersetzt. Unter anderem aus diesem Grund dürfte sich in fast allen mystischen Lehren die Auffassung herausgebildet haben, daß der Suchende – so fortgeschritten er auf dem mystischen Wege sein mag – dennoch zwingend eines geistigen Führers bedürfe, eines Gurus oder Pirs. Abgesehen vom erzieherischen und psychologischen Beistand in der Grenzerfahrung der mystischen Klausur, repräsentiert der Pir die religiöse Autorität in ihrer traditionellen Verfassung: «Er lenkt und bestimmt die Ausdeutung der mystischen Erfahrung, noch bevor sie überhaupt zustande kommt», schreibt Scholem: «Er lenkt sie in Kanäle, die der etablierten Autorität annehmbar sind.»[ 8 ]
    Vor allem mit Blick auf die Wegweisungen des Pirs ist zu erklären, daß eine Schrift wie «Das Buch der Leiden», die doch dem überlieferten Verständnis des Islams und dem koranischen Gottesbild an unzähligen Stellen auf krasse Weise widerspricht, kaum je als häretisch wahrgenommen wurde wie andere sufische Texte etwa von al-Halladsch oder Schehaboddin Sohrawardi. Die Grenze, die al-Halladsch oder Sohrawardi in ihrer religiösen Erfahrung überschritten haben, läßt sich mit Scholem präzise bestimmen: Sie haben die religiöse Autorität nicht nur umgedeutet, sondern beanspruchten, eine neue Autorität zu stiften oder sogar über aller Autorität zu stehen, ihr eigenes Gesetz zu sein. «Ich bin der Wahrhafte», wie al-Halladsch,[ 9 ] oder «Ich bin größer», wie Bayezid Bestami ausrief, als er den Gebetsruf Allāhu akbar hörte, «Gott ist groß».[ 10 ] Attar hingegen, so
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