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Unsere Oma

Unsere Oma

Titel: Unsere Oma
Autoren: Ilse Kleberger
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Anstandsunterricht

    Jan, Frieder und die kleine Karoline saßen auf Pieselangs Teppichstange und gaben an.
    Der dicke Frieder schob den Kaugummi in die andere Backe und sagte: »Wir sind die reichsten Bauern, wir haben am meisten Land!« Stolz blickte er über die Weizenfelder, die gerade gelb zu werden begannen und sich bis zu dem Bauernhof seines Vaters erstreckten.
    »Das hast du schon oft gesagt«, entgegnete die kleine Karoline spitz, »das wissen wir nun bald.«
    Ärgerlich warf sie ihren rotblonden Zopf über die Schulter zurück. Dann hob sie die Nase in die Luft und rief: »Aber wir haben zehnmal mehr Hühner als ihr!«
    Frieder schien nicht weiter beeindruckt zu sein. »Unsere Kühe haben ein Wasserklosett«, erwiderte er ruhig.
    Auch das wußten sie schon, daß beim reichen Frieder-Bauern, der Kuhmist in einer Rinne fortgespült wurde.
    Doch Karoline übertrumpfte ihn. »Unsere Küken tragen Brillen!« In der Tat war es seit Wochen im Dorf die große Sensation, daß die größeren Küken der Hühnerfarm undurchsichtige Plastikbrillen trugen, so daß sie nur seitwärts blicken und sich nicht mehr gegenseitig blutig hacken konnten.
    Jan hatte bis jetzt geschwiegen. Er überlegte verzweifelt, womit er angeben könnte. Lehrer Pieselangs Häuschen mit seinem dunklen Fachwerk und weißen Putz, auf das sie herabblickten, war zwar hübsch, aber klein. Es gehörten keine Felder dazu, sondern nur ein Gemüsegarten. Kühe besaßen sie gar keine und Hühner nur fünfzehn Stück.
    Plötzlich leuchtete es in Jans rundem, sommersprossigem Gesicht auf. »Aber wir haben unsre Oma!« Die beiden anderen wandten sich ihm wie elektrisiert zu. »Och, Jan, können wir nicht mal zu ihr ‘rein?« bat Karoline.
    Jan genoß es, plötzlich im Mittelpunkt zu stehen. Er wiegte den Kopf. »Muß mal sehen, ob sie euch empfängt«, sagte er dann und rutschte von der Teppichstange herunter. Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte er ins Haus.
    Nach einer Weile kam er zurück. »Ihr könnt kommen«, sagte er wichtig, »aber benehmt euch! Und Frieder, nimm den Kaugummi aus dem Mund. Kaugummi kann Oma nicht leiden.«
    Erstaunlich fügsam holte Frieder mit seinen schmutzigen Fingern den Kaugummi hervor und klebte ihn sich hinters Ohr.
    »Und seid leise. Oma gibt Brigitte gerade Anstandsunterricht, da dürft ihr nicht stören. Aber zuhören könnt ihr, das kann euch gar nichts schaden!«
    Lehrer Pieselang hatte sechs Kinder, und er wünschte, daß sie gut erzogen würden. Aber er war selten zu Haus, und Mutter Pieselang, die außer den Kindern und ihrem Mann auch noch die Hühner, eine Ziege und den Garten zu versorgen hatte, fehlte es an Zeit, sich um die guten Sitten der Kinder zu kümmern. Hatte sich eines der Pieselang-Kinder besonders schlecht benommen, so sagte sie: »Geh zu Oma und laß dir Anstandsunterricht geben.«
    Oma hatte erstens Zeit, und zweitens verstand sie etwas von feinem Benehmen. Sie war nämlich als Fräulein von Haselburg auf einem Rittergut aufgewachsen. Später hatte sie dann den Lehrer Pieselang geheiratet, und ihr Sohn, Jans Vater, war auch wieder Lehrer geworden.
    Jan öffnete eine Tür und legte warnend den Finger auf den Mund. Die drei Kinder traten auf Zehenspitzen in ein großes, fast leeres Zimmer und setzten sich auf eine Holzbank neben ein flachsblondes Mädchen, das die Hände brav im Schoß gefaltet hielt. Oma, die auf einem Lehnstuhl am Fenster thronte, nickte den Kindern zu. Außer der Holzbank und dem Lehnstuhl befand sich nur noch ein Vogelkäfig im Zimmer. An der rechten Wand stand eine Leiter, die zum Boden hinaufführte. Oma hatte ihren Vortrag nicht unterbrochen. Indem sie an einem langen roten Schlauch strickte, sagte sie:
    »Wasch dir die Hände, mach dir die Fingernägel sauber und kämm dir die Haare, laß deine Sachen nicht herumliegen, räum dein Zimmer auf, sitz gerade, widersprich nicht. Wasch dir die Hände, mach dir die Fingernägel sauber und kämm dir die Haare, laß deine Sachen nicht herumliegen, räum dein Zimmer auf, sitz gerade, widersprich nicht. Wasch dir die Hände...«, und so immer weiter. Beim vierten Mal »sitz gerade« sahen alle vier Kinder aus, als hätten sie Stöcke verschluckt.

    Komisch, dachte Karoline, sie bewegt gar nicht den Mund beim Sprechen. Ob sie bauchreden kann? Nach allem, was man sich im Dorf über Pieselangs Oma erzählte, erschien ihr das durchaus möglich.
    »Sitz gerade, sitz gerade, sitz gerade, sitz gerade, sitz gerade«, sagte Oma. Karoline
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