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Der Schneekönig

Der Schneekönig

Titel: Der Schneekönig
Autoren: Astrid Martini
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herzförmiges Gesicht und die blitzenden Augen verliehen ihr einen ganz eigenen Charme, fern von jeglichem Schönheitsideal.
    Sie war schon viele Stunden über Wiesen und durch Wälder unterwegs, vorbei an Bächen und Seen, als alles übermannende Erschöpfung von ihr Besitz ergriff. Sie ließ sich neben einem Holunderbusch nieder, und schon bald fielen ihr die Augen zu.
    Sie erwachte von einem kühlen Windhauch. Fröstelnd setzte sie sich auf. Silberne Mondstrahlen brachen durch das Blätterdach, eine Eule schrie. Längs des Weges, an dem Amelie tagsüber hübsche Sträucher gesehen hatte, wirkten diese nun wie geheimnisvolle Gestalten in lauernder Stellung, ganz so, als warteten sie nur darauf, sich auf sie zu stürzen.
    Ihr klopfte das Herz bis zum Hals, dennoch packte sie ihr Bündel, erhob sich und setzte ihren Weg fort.
    Vollmond. Es war Vollmond, und nur dann, wenn der Mond in seiner ganzen Pracht am Himmel zu sehen war, war es möglich, die Zauberin des Waldes um Rat zu bitten.
    Der Kiesweg glänzte im Mondschein. Sie lief an einer alten, bedrohlich wirkenden Friedhofsmauer vorbei und fragte sich, wieso sie nicht einfach umkehrte, und sich in ihrem behaglichen Zuhause verkroch.
    Jedoch immer, wenn sie diese Anwandlungen zu übermannen suchten, sah sie Simons Gesicht vor sich und wusste, dass sie nicht aufgeben durfte. Endlos kamen ihr die Stunden der Wanderung vor. Die Hügel im Osten erschienen ihr dunkel und drohend wie eine Gewitterfront. Doch genau in diese Richtung musste sie gehen – dorthin, wo eine finstere Kälte die silbernen Mondstrahlen zu verschlingen drohte.
    Amelie lauschte. Was war das? Es klang wie ein leises Rufen ... jedoch keine menschlichen Laute. Sie erschauerte. Heiße Angst stieg in ihr hoch.
    Da war es wieder – dieses Wispern, einem Rufen gleich. Amelie rannte, stolperte, stürzte voran. Längst wusste sie nicht mehr, wo sie war, eilte weiter und blieb abrupt stehen, als weißes schimmerndes Gefieder ihre Wangen berührte, zu Boden flatterte und die weisen, klugen Augen einer Eule sie zu fixieren begannen.
    Regungslos saß die Schneeeule vor ihr, blickte umher, dann fuhr sie blitzschnell mit dem Schnabel in ihr Gefieder, packte eine samtige Feder und riss sie sich aus. Sie flog auf, schüttelte ihre Schwingen aus, umkreiste Amelie dreimal und hielt ihr die Feder auffordernd hin.
    „Das wird dir Glück bringen“, wisperte sie fast unhörbar.
    Als sie die Feder an sich nahm, wies die Eule mit dem Schnabel in eine Richtung, von der Amelie unwillkürlich spürte, dass es die richtige war.
    Mit der gefiederten Gefährtin an der Seite schritt sie weiter den Pfad entlang, der sich durch den finsteren Wald wand, vorbei an glänzendem Efeu und zotteligen Sträuchern, bis sie schließlich – auf seltsame Weise aufgeregt – auf einer smaragdgrünen Lichtung stand, die das Licht des Vollmondes förmlich zu trinken schien.
    Verborgen hinter drei kirchturmhohen Eichen sah sie ein von Rosenranken umgebenes, windschiefes Haus, dessen Schornstein tiefblauen Rauch in den Nachthimmel blies. Ein Garten umgab das Haus, dessen Fenster weit geöffnet waren, sodass unzählige Vögel ein- und ausfliegen konnten. Der Garten lud zum Näherkommen ein, und als sie an den Blumen und Pflanzen vorüberging, streckten diese sich ihr sanft entgegen.
    Die Eule ließ sich auf einem Ast nieder und blinzelte Amelie noch einmal zu. Dann breitete sie ihre Schwingen aus und flog dem Mond entgegen.
    Zögernd stieg Amelie die Stufen zum Eingang hinauf und betätigte den eisernen Türklopfer, der die dunkelrote Haustür schmückte.
    Im gleichen Moment hörte sie eine Stimme: „Die Tür ist offen!“
    Ein wenig befangen betrat sie die große Wohnküche, in deren Mitte ein riesiger Kessel über einem heimeligen Feuer hing.
    Wenige Schritte daneben standen zwei dunkelrote Hocker und ein Holztisch. An der Wand hing ein Regal, auf dem Kübel, Flaschen und Glasgefäße in unterschiedlichen Größen standen. Ihre Inhalte schimmerten dunkelrot. Ein dicker Samtvorhang links von ihr teilte sich, und vor ihr stand die durchscheinend schimmernde, silbrige Gestalt einer alten Frau.
    „Ich weiß schon, was du willst!“, sagte sie mit melodiöser Stimme.
    „Das ist zwar gefährlich, aber du sollst deinen Willen haben.“
    Die Frau führte Amelie zu einem Stuhl. „Du willst ins Reich der Schneekönigin, um deinen Bruder zu finden.“ Sie scheuchte einen kleinen, frechen Vogel fort, der ihr neckisch ins Ohr pickte, und lächelte.
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