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Der Schneekönig

Der Schneekönig

Titel: Der Schneekönig
Autoren: Astrid Martini
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zu sehen.
    Mittlerweile hatte der Bürgermeister sie erreicht. Er wollte gerade das Wort an sie richten, da entdeckte Amelie einen Gegenstand aus Metall auf dem Boden. Ein Schlüssel. Der Schlüssel zur Tischlerei, wie sie bemerkte, denn sie erkannte den Schlüsselanhänger aus Filz.
    Sie ignorierte den Gesprächsversuch des Bürgermeisters und bückte sich, um den Schlüssel aufzuheben, als ihr jemand zuvorkam. Blitzschnell schoss eine Hand vor, legte sich über den Schlüssel und riss ihn vom Boden hoch.
    Als Amelie aufschaute, stand Simon vor ihr und hatte die Hand um den Schlüssel zur Faust geballt. Er verzog die Mundwinkel – jedoch nicht zu einem Lächeln, sondern zu einer eiskalten Grimasse. Amelie erschrak und erhob sich. Ihr Bruder war eine Frohnatur, negative Gefühle waren ihm fremd, und ihr war er besonders herzlich zugetan. Und nun dieser frostige Blick, der sie bis ins Mark erschauern ließ.
    „Was ...“, setzte sie an, brach aber sofort ab, denn ihr Bruder spuckte ihr vor die Füße, wandte sich ab und ließ seine Schwester sprachlos zurück.
    Eine sonderbare Veränderung schien mit ihrem Bruder vorgegangen zu sein. Eine Veränderung, die ihn wie eine Mauer aus Eis umgab.
    Die Dorfbewohner, die die Szene beobachtet hatten, begannen erneut zu tuscheln. Und dann endlich gelang es dem Bürgermeister, die Aufmerksamkeit Amelies zu erlangen. Er begann von der in kostbare Gewänder gekleideten Dame zu erzählen, die, in gleißendes Licht getaucht, am Morgen urplötzlich auf dem Marktplatz gestanden, ihren Bruder aufgesucht, und ihm einen alten Spiegel gebracht hatte. Stundenlang sei sie bei ihm in der Werkstatt gewesen. Ihr glockenhelles Lachen war durch das geschlossene Tor bis zum Waldrand hin zu hören gewesen, und ein kalter Nebel sei aufgezogen. Niemand hatte die weiß gekleidete Frau wieder fortgehen sehen, jedoch hatte jeder gespürt, welche Veränderung seitdem mit Simon vorgegangen sei.
    Amelie erfuhr von wilder Zerstörungswut und wüsten Beleidigungen ihres Bruders den Mitbürgern gegenüber. Von Kunden, die er grundlos vor die Tür gesetzt und beschimpft hatte, weil er seine Ruhe haben wollte, von in Tausend Scherben zerbrochenes Geschirr, weil eine der Töpferinnen ihn freundlich gegrüßt und ihm dies missfallen hatte. Ja, er hatte gar sämtliche Tulpen, auf die sich seine Schwester jedes Jahr so freute, aus dem heimatlichen Garten herausgerissen.
    All das, was ihn charakterlich immer positiv auszeichnete, hatte sich zum Negativen gewandelt. Aus einem fröhlichen, unbeschwerten und stets zuvorkommenden jungen Mann wurde ein ungehobelter, übel gelaunter Zeitgenosse, der nur eines im Sinn hatte: Zerstören!
    Simon stand im offenen Tor seiner Werkstatt. Funkelnde und keineswegs freundliche Blitze schossen aus seinen Augen, fixierten Amelie und den Bürgermeister. Noch einmal kreuzte sein Blick den seiner Schwester, dann wandte er sich ab, eilte in seine Werkstatt und schlug das Tor laut krachend hinter sich zu.
    Nun hatte sich auch Simon unbeliebt gemacht, den Unbill der Dorfbewohner auf sich gezogen, und das auf eine Art und Weise, die Amelie das Blut in den Adern gefrieren ließ.
    „Man sollte euch aus dem Dorf jagen“, fauchte eine Wäscherin im Vorübergehen, stellte einen Eimer neben dem Brunnen ab und gesellte sich zu den anderen Frauen.
    Amelie nahm die empörten Rufe aus der Menschenmenge nur am Rande wahr.
    Die Blicke der Dorfbewohner ignorierend schritt sie zur Werkstatt, begann entschlossen gegen das Tor zu hämmern. Laut rief sie nach ihrem Bruder, aber nichts rührte sich.
    „Was ist los mit dir? Und wieso lässt du mich nicht rein?“
    Keine Antwort.
    „Simon, so rede doch mit mir. Mach auf, bitte! Ich mach mir Sorgen.“
    Noch immer blieb es still in der Werkstatt.
    Amelies Unruhe wuchs. Was zum Teufel ging hier vor?
    Die verwunderten und argwöhnischen Blicke der Dorfbewohner, die sich im Halbkreis um sie versammelt hatten, spürte sie wie Nadelstiche.
    Erneut pochte sie gegen das Tor, rief immer wieder seinen Namen.
    „Verschwinde“, hallte es schließlich zurück. „Du nervst. Ich will dich nie wieder sehen.“
    Der Schmerz, der in ihrem Innern wuchs, war entsetzlich. Was sagte er da? Und wieso? Nie hatten sie gestritten, waren stets ein Herz und eine Seele gewesen.
    Ihren Kummer hätte sie nicht in Worte zu fassen vermögen, so überwältigend, allumfassend erschien er ihr.
    Sie hatte das Gefühl, als sei die Mauer, die Simon um sich herum zu bauen begann, zu einem
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