Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schneekönig

Der Schneekönig

Titel: Der Schneekönig
Autoren: Astrid Martini
Vom Netzwerk:
letzten Funken Hoffnung, aber auch Angst, dass ihre Hoffnung umsonst sein könnte, vor ein paar Stunden zugeflüstert hatte. Amelie blickte hinauf, betrachtete voller Melancholie die beiden Monde, deren Strahlen sich langsam hinabsenkten. Traurigkeit durchschlich ihren Körper wie ein Dieb, der ihr das Glück neidete und grausam stehlen wollte.
    Sie stieg langsam die Stufen des Turmes hinab. Ihre Handknöchel traten weiß hervor, so fest hielt sie das Geländer umfasst.
    Und dann stand sie im Garten. Alles erschien ihr wie ein böser Traum, und doch war es wahr. Während sie in die Knie ging, spürte sie die Kälte des Eises, das im silbernen Licht glänzte, und sie begriff: Sie hatte den Kampf verloren. Ihre Lippen begannen vor Kälte zu zittern, ihr Inneres erstarrte ebenso wie ihr Blick, der gebrochen ins Nichts fiel. Dann sackte sie in sich zusammen.
    Louis saß am Fenster und blickte in den purpurfarbenen Himmel, der sich langsam in eisiges Blau zu verfärben begann. Sah, wie sich die silbernen Strahlen der beiden Monde zur See neigten. Er wusste, was das zu bedeuten hatte. Doch etwas war anders als sonst. Es fehlte die Gleichgültigkeit.
    Mit finsterem Blick tauchte er die Feder in blutrote Tinte und setzte Buchstabe für Buchstabe auf das blütenweiße Papier seines Tagebuchs, das er seit dem Tod seiner Mutter führte.
    „Müde, redselig und voll von Empfindungen, die ich nie – ich betone: nie zulassen werde, sitze ich hier und verfluche – zum ersten Mal überhaupt – diesen magischen, siebten Tag! Verfluche den Moment, in dem der Doppelmond sein Bad im Eissee nehmen wird. Denn just in diesem Augenblick wird diese Frau, so weich und warm und lieblich, zu ewigem Eis erstarren, ebenso wie schon so viele vor ihr. Und ich, ich sitze hier und vermisse die Gleichgültigkeit, die mich sonst begleitete, verfluche den Gedanken daran, sie nie wieder in den Armen zu halten, ihr über das Haar zu streichen und ihr einfach nur in die Augen schauen zu können
.
    Trotz aller Vernunft, und obwohl ich seit dem Tag, an dem ein Menschenmann meine geliebte Mutter verriet, und sie alsbald an gebrochenem Herzen starb, jeglichem Gefühl abgeschworen und mein Herz zu ewigem Eis habe frieren lassen, fühle ich mich ihr – Amelie – tief verbunden. Dennoch vermag ich es nicht, die nötigen Worte und Gefühle zuzulassen. Sie wird mir fehlen. Ihre Nähe. Ihr Duft. Ihr Lachen. Ihre Hingabe
...
    Louis brach ab, schaute erneut aus dem Fenster. Er war es gewohnt alles zu bekommen, was er wollte. Nichts wurde ihm verweigert, während er selbst nicht geben konnte und wollte. Und nun war da in ihm dieses Gefühl der Stille und Einsamkeit.
    Um ihn herum war alles dunkel – obwohl es schneeweiß war. Sein bisheriges Leben hatte er in innerer Finsternis verbracht. In Kälte, erfüllt von Hass und Gleichgültigkeit. Und genau dieser Zustand begann ihm in diesem Moment die Kehle zuzuschnüren. Mit einem Mal fühlte er sich einsam. Ein nie gekanntes Gefühl. Statt von Eiseskälte wurde sein Herz just in diesem Moment von etwas anderem ausgefüllt. Von etwas, das er nicht beschreiben konnte. Und nichts vermochte dieses erdrückende Etwas zu stillen.
    Hinter ihm waren Schritte zu hören, er wandte sich um. Als er seine Schwester erblickte, wollte er ihr zunächst unwirsch zu verstehen geben, dass er keine Gesellschaft wünsche. Die Hoffnungslosigkeit in ihrem Blick ließ ihn jedoch innehalten, und mit einem Mal spürte er selbst genau das in seinem Inneren, was ihre Augen qualvoll in den Raum zeichneten.
    Er sprang auf, schob sich an ihr vorbei und raste die Treppen hinab. Hinter den Mauern aus Eis begann sich sein Herz einen Spalt zu öffnen.
    Bei Amelie angekommen, ging er in die Knie. Er neigte sich über die leblose Gestalt und gab es auf, sich der Faszination, die diese Frau in ihm hervorrief, zu entziehen. Eine Faszination, die den Rest seines Daseins bestimmen würde. Der starre Blick aus ihren im Leid aufgerissenen Augen marterte sein eiskaltes Herz, allein der gedankliche Klang ihres Namens versetzte ihn in Aufruhr, und die Erinnerung an die gemeinsamen Stunden berührten ihn. Sie durfte nicht zu Eis erstarren, sie musste leben, für ihn! Doch es schien zu spät zu sein. Und er erinnerte sich, wie sie zitternd in seinen Armen lag und sich in die Liebkosungen hatte fallen lassen, die er ihr zukommen ließ.
    Der Spalt der Eismauer, die sein Herz umschloss, wurde größer.
    Eine nie gekannte Wärme stieg in ihm auf. Er wollte sie wie ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher