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Der Schneekönig

Der Schneekönig

Titel: Der Schneekönig
Autoren: Astrid Martini
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nach ihrem Bruder zu machen.
    Nachdem sie das Frühstück, das ihr gebracht wurde, genussvoll zu sich genommen hatte, streifte sie neugierig im Schloss umher. Eigentlich gefiel es ihr, durch all die stillen, verlassenen Räume der oberen Stockwerke zu streifen, doch saß ihr der Gedanke an ihren Bruder wie ein dunkler Zeitgenosse auf der Schulter und vermieste ihr die Entdeckungstour.
    Wo mag er sein? Geht es ihm gut? Werde ich ihn finden?
    Sie gelangte in einen langen, hellen Raum, bei dem sie nicht so recht wusste, ob es ein schmales Zimmer oder ein sehr breiter Korridor war. Die Wand, die den Fenstern gegenüberlag, war ganz mit Bildern behängt. Dicht an dicht, teilweise mannshoch, mit Rahmen so alt und schwer, dass man sicherlich vereinte Kräfte benötigte, um sie zu transportieren.
    Eins der Bilder sprang ihr sofort ins Auge.
    Der Mann auf dem Gemälde betrachtete die Welt mit kühlen blauen Augen. Silberblondes Haar umrahmte ein attraktives Gesicht, eine Haarsträhne fiel ihm jungenhaft in die Stirn. Um seinen Mund lag ein sarkastisches Lächeln. Der Schneekönig.
    Interessiert betrachtete Amelie das Gemälde. Das Datum zeigte ihr, dass es vor etwa zweihundert Jahren gemalt worden war. Es war erstaunlich lebensecht.
    Die Ruhe des Raumes tat ihr gut, doch Entspannung fand sie nicht. Ihr Blick glitt immer wieder zu dem Gemälde des Mannes, der ihr Herz zum Klopfen gebracht hatte wie nie jemand zuvor. Und selbst unter dem intensiven Blick des gemalten Abbildes fühlte sie, wie sich ihre Wangen röteten.
    Durch ein Labyrinth verschlungener Gänge gelangte Amelie in den hinteren Teil der Galerie, wunderte sich, wie großzügig der vorher schmale Raum sich mit einem Mal zu öffnen begann. Mit jedem Schritt, den sie machte, wurden die Gemälde bunter, wirkten lebendiger. Die Stimmung in diesem Raum hatte etwas Mystisches, Magisches. Vom prachtvollen abwechslungsreichen Anblick gefesselt, schlenderte Amelie an den Bilderreihen vorbei, die scheinbar allesamt vergangene Szenen aus dem Leben dieses Schlosses zeigten.
    Und dann stand sie vor einem Gemälde, das deutlich anders war als die, die sie zuvor betrachtet hatte. Es war ebenso farbenfroh, wirkte auch lebendig ... allerdings fast schon zu lebendig. Amelie begriff, dass dieses Bild ihr den Blick auf das freigab, was just in diesem Moment in einem der Räume des Schlosses vor sich ging.
    Sie sah einen gemütlich eingerichteten Saal. Eine offen stehende Flügeltür führte auf eine weiße Terrasse, die von einem verwilderten Park umgeben war. Mitten im Raum war ein großes Becken, in dessen Mitte ein kleiner Springbrunnen plätscherte, überall standen Vasen und Gefäße mit Eisrosen. Eine eigenartige Atmosphäre drang aus dem Bilderrahmen zu ihr hin, der Geruch schweren Parfums und Puderquasten hing in der Luft, vermischte sich mit dem Duft der eisigen Rosen.
    Amelie spürte, dass die Luft des Raumes, auf den sie gerade blickte, mit Lachen und Lust gesättigt war. Aber auch mit vergangenen Tränen. Kühle Schatten krochen über die Wände. An einer Wand hing ein ovales Bild, das den Schneekönig und seine Schwester zeigte.
    Schwere Lüster schwebten über einem weißen Marmorboden, auf dem sich tanzfreudige Paare zu einer wundersamen Musik im Kreis drehten. Amelie beobachtete, wie sich eines der Paare von den übrigen abzusondern begann, sich in eine Ecke auf ein Kissenlager zurückzog.
    Dann war die Sicht getrübt, denn feine Nebel waberten über die Kulisse, verflüchtigten sich nach kurzer Zeit und zeigten ihren Bruder ... und die Schneekönigin, die alles zu versuchen schien, die ungeteilte Aufmerksamkeit von Simon zu erlangen. Dieser ließ jedes Glas, aus dem er getrunken hatte, mit bösem Lachen an den Eiswänden zerschellen, ignorierte die Schneekönigin und winkte stattdessen nach den schönen Mädchen, die ringsum standen. Nie hatte Amelie so viele schöne Frauen zugleich gesehen. Sie waren prächtig gekleidet, eingehüllt in kostbare Gewänder und behangen mit Glitzerschmuck. Perlenketten durchzogen ihre kunstvoll frisierten Haare, und bei jeder Bewegung war das leise Klingen der Armreifen zu hören, die um ihre Handgelenke lagen.
    Eine Frau schien Simon nicht zu reichen. Wie ein Schmetterling flog er von einer Frau zur nächsten, schob schließlich jede ungehobelt von sich, die er bereits erobert hatte und hielt sich auch mit Beleidigungen nicht zurück. Das alles geschah mit gleichgültigem Gesichtsausdruck und einem kalten Glanz in seinen grünen Augen.
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