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Der Schneekönig

Der Schneekönig

Titel: Der Schneekönig
Autoren: Astrid Martini
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Er wirkte arrogant und böse, war Amelie fremd, und sie dachte an sein Verhalten in ihrem Heimatdorf und an die Worte der Schneekönigin:
    ...
dein Bruder ist nicht mehr der, der er einmal war
... und ...
der mehr und mehr zu vereisen beginnt
...
    Ihr Blick suchte das Bild nach der Schneekönigin ab, doch sie war nicht mehr da.
    In diesem Augenblick knarrte die Tür, und ein winziger Hund drückte sich durch einen Spalt hinein. Sein helles Fell flirrte im fahlen Sonnenlicht. Ihm folgte die Schneekönigin.
    Sie lächelte, aber es wirkte ein wenig aufgesetzt. Ihr Kinn reckte sie erhaben nach vorne, obwohl in ihren Augen Trauer stand. Eine stolze, schöne Silhouette. Reizvoll, aber auch kalt. Unberührbar und doch verfangen in ihren Jahrhunderte alten Sehnsüchten. Ihr Kopf deutete auf das Bild. „Du hast deinen Bruder gesehen?“ Amelie nickte.
    „Es wird schlimmer werden ... viel schlimmer. Es sei denn ...“ Die Schneekönigin sprach den Satz nicht aus, warf Amelie hoffnungsvolle Blicke zu, und diese wusste auch ohne Worte, was gemeint war.
    „Wir ... wir haben uns ... nun ja ... geküsst.“
    „Das ist nicht viel.“
    „Ich befürchte, ich schaffe das alles nicht.“ Ein tiefer Seufzer begleitete ihre Worte. „Aber selbst wenn es mir gelänge, ihn zu verführen, was sollte daran so anders sein als die Schäferstündchen mit all den anderen Frauen, denen es nicht gelungen ist, sein Herz zu erreichen?“ „Zu viele Fragen und Zweifel sind destruktiv. Gib dir Mühe. Noch sind sechs Tage Zeit.“ Raum für eine Erwiderung blieb Amelie nicht, denn so urplötzlich wie die Schneekönigin vor ihr gestanden hatte, war sie auch wieder verschwunden.
    Am nächsten Tag gelang es Amelie nicht, des Schneekönigs Wege zu kreuzen. Selbst mit Unterstützung der Schneekönigin waren alle Versuche aussichtslos. Er schien ihr bewusst aus dem Weg zu gehen, aus welchen Gründen auch immer. Auf diese Weise zerrann unter ihren Händen kostbare Zeit. Am Ende des zweiten Tages konnte sie nicht glauben, das auch dieser Tag schon wieder verstrichen war und fortan nur noch vier Tage blieben.
    Trotz fortgeschrittener Stunde brannten überall im Schloss Lampen. Draußen war der Himmel über und über mit Nordlichtern besprenkelt. Amelie saß vor dem Frisierspiegel, kämmte ihr Haar. Hatte sie vor ein paar Minuten noch vorgehabt zu Bett zu gehen, so überlegte sie es sich nun anders. Sie würde noch eine Runde durch das Schloss spazieren. Wer weiß, vielleicht begegnete sie dem Schneekönig ja doch noch, der wie vom Erdboden verschluckt schien.
    Als sie ihr Zimmer verlassen hatte und an der breiten Treppe ankam, die in den Haupttrakt hinabführte, sah sie Simon. Er stand auf der untersten Stufe, bei ihm drei Schönheiten, die um seine Gunst buhlten.
    Die schwarzbraune Seide, in die er gekleidet war, schimmerte bei jeder Bewegung, und die Ärmel und der Kragen waren mit einem feinen Pelz besetzt – aber er selbst sah erbärmlich aus. Sein Haar war zerzaust, und mit einer Flasche Rum in der Hand lallte er unverständliches Zeug. Seine Hände zitterten so sehr, dass die Flüssigkeit aus der Flasche schwappte und über seine Hand rann. Er leckte sie gierig ab, um ja keinen Tropfen zu verlieren. Sein Blick war wirr, er wusste offenbar nicht, wo er sich befand, noch mit wem er es zu tun hatte. Amelie erschrak wegen seiner bleichen, eingefallenen Wangen und seiner deutlich ausgemergelten Gestalt. Selbst im trüben Halblicht war zu erkennen, wie verwüstet sein Körper war, und als er davonstolperte wie ein alter Mann, unterdrückte sie ein aufkommendes Schluchzen. Ihr Bruder schien körperlich und auch mental förmlich zu zerfallen – und sie war hilflos.
    Das heißt, es gab da schon etwas, was sie tun konnte. Nur leider hatte sich der nötige Hauptakteuer aus dem Staub gemacht!
    Orientierungslos und innerlich zu aufgewühlt, um sich Gedanken zu machen, streifte sie durch das Schloss. Es ging Treppen hinauf und Treppen hinunter, auf und ab, bis sie sich schließlich im Garten wiederfand.
    Die nächtliche Kälte spürte sie nicht. Sie war innerlich wie tot, fühlte sich hilflos und gelähmt. Ihre Füße steckten bis zum Knöchel im Schnee. Feste Schuhe trug sie nicht, schließlich hatte sie vorgehabt, sich nur in den Räumlichkeiten des Schlosses aufzuhalten. Doch das war ihr egal. Ohne nachzudenken folgte sie einem Weg, lief durch eine labyrinthartig angelegte Eislandschaft, in der sie sich nicht einmal mit einem Plan zurechtgefunden hätte.
    Die
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