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Der Schneekönig

Der Schneekönig

Titel: Der Schneekönig
Autoren: Astrid Martini
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wohlige Schwärze, der sie nachzugeben drohte.
    Die letzte Kraft mobilisierend, marschierte sie weiter, obwohl die Kälte sie fast verzehrte. Scharfkantige Umrisse des Palastes, die wie Messer in den Schneehimmel ragten, tauchten schemenhaft vor ihr auf.
    Ein flackerndes Licht begann die Schneeflocken zu teilen. Es war, als würde jemand einen Vorhang vor ihren Augen auseinanderziehen.
    Sie gelangte zu einem großen Garten mit violett schimmernden und dunkelblauen Bäumen. Deren Früchte strahlten wie Silber, und die Blumen ringsherum waren aus Eis.
    Inmitten des wundersamen Gartens stand prächtig und glanzvoll der Eispalast.
    Amelie sah ein in gleißendes Licht getauchtes, schönes Wesen, das einen jungen Mann in die kalte Unendlichkeit des prächtigen Schlossgartens führte. Das durchsichtige Gewand dieser filigranen Nymphe war reich verziert mit kostbarem Geschmeide, das im Glanz der beiden Monde funkelte und blitzte. Anmutig setzte die betörende Gestalt einen Fuß vor den anderen. Dabei gab der seitliche, hüfthohe Schlitz des Gewandes den Blick auf ihre langen Beine preis. Sie lächelte, warf dem Mann neben sich einen verführerischen Blick zu und schmiegte ihren Körper mit eleganten Bewegungen an den seinen. Ihre Gestik zeigte, dass sie genau wusste, wie sie ihren Körper einsetzen musste, um ihr Gegenüber zu bezaubern, und so hob sie zärtlich die Hand und strich ihm mit ihren feingliedrigen Fingern durch das Haar. Dabei klimperten die Armbänder an ihren Handgelenken wie ein Glockenspiel weit über die unzähligen Kristallhügel hinaus und gaben kurz darauf ein feines Echo wieder. Lächelnd stellte sich die anmutige Gestalt auf Zehenspitzen und rieb ihre Brüste – die nur spärlich mit dem zarten Gewand bedeckt waren – aufreizend an seinem Oberkörper. Es war nur unschwer zu erkennen: Der Mann war Wachs in ihren Händen.
    Dies war der Ort der Nymphen und Sirenen, die nichts anderes im Sinn zu haben schienen, als Männer zu erobern. Und die Schneekönigin war die Gierigste von allen, die Skrupelloseste, Raffinierteste, mit einem Herz aus Eis.
    Die Nymphe legte eine Hand auf die Wange ihres Opfers, während sie die andere zwischen seine Beine schob und schließlich ungeduldig seine Hose zu öffnen begann.
    Amelie wandte den Blick ab. Schmerzhaft musste sie daran denken, wie ihr Bruder sich von der Schneekönigin hatte betören und in ihr Reich locken lassen.
    Auf einem der im See treibenden Eisblöcke saß ein weiteres Zauberwesen. Mit silbernem Kamm fuhr sie durch ihr fliederfarbenes Haar. Ihr Gesang tönte weit über die Schneelandschaft hinaus, eine liebliche Stimme, deren süßer Klang Männer aus nah und fern blind vor Verlangen herbeilockte.
    Amelie näherte sich dem Schloss. Uneinnehmbar und unvergänglich schien es ihr mit den verschnörkelten, aber wuchtigen Rundtürmen, den prachtvollen Säulen und den dicken Mauern aus Eis. Unmittelbar davor lag ein sternförmiger Weiher, der mit Eisblumen übersät war. Eine Treppe aus Eiskristallen führte über das Wasser zum Portal.
    Zögernd überquerte Amelie die Brücke, erklomm die Stufen und atmete tief durch. Sie hatte das eisige Reich der Schneekönigin erreicht, diesen sagenumwobenen Ort, den niemand ohne guten Grund aufsuchte. Hoch oben auf den höchsten Klippen, auf denen Schnee und Eis zur Ewigkeit verschmolzen.
    Eine alte Dame in golddurchwirkten Gewändern öffnete das Portal, kaum dass Amelie davorstand. Zweifellos war sie die oberste Hausdame. Sie hob ihre mit Diamanten besetzte Lorgnette vor die Augen, betrachtete Amelie eindringlich durch die Gläser und sagte: „Sie werden erwartet.“
    Amelies Herz begann schneller zu klopfen. Sie wurde erwartet? Von wem? Etwa Simon? Woher wusste er?
    Unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf, doch bevor sie diese zu formulieren vermochte, erntete sie ein distanziertes, knappes Nicken und die harsche Geste der vorauseilenden Hausdame zu folgen. Sie trat durch das große Tor ins Schloss, sah sich staunend um. Die Wände waren fantasievoll verziert. Schon tausendmal hatte sie sich das Schloss der Schneekönigin in Gedanken vorgestellt, doch ihre Fantasie reichte nicht einmal ansatzweise an das heran, was sie hier vorfand.
    Kristallklare Spitzbögen, die von einem zum anderen der scheinbar unendlichen Säle führten. Das silberne Licht der zwei Monde beleuchtete sie alle geheimnisvoll, und sie waren so groß, so prächtig, so glänzend und wunderschön.
    Amelie wurde durch den ersten Saal zum zweiten
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