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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum
Autoren: Jane Urquhart
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oft stelle: Hat sie wenigstens eine einzige Erinnerung an Zärtlichkeit retten können, oder haben die folgenden Ereignisse alles Zärtliche und sogar die Erinnerung daran aus ihrem Leben getilgt?
    Sie wird schon eine Zeitlang gewusst haben, dass sie ihm nichts mehr zu geben hatte – und gab dennoch weiter, während er sich nach und nach immer tiefer in verzweifelte Geschwätzigkeit und leutselige Verbrüderung mit allen anderen in seiner Umgebung zurückzog. Vielleicht war es in diesen letzten Jahren schon vorgekommen, dass er sich halb und halb mit ihr verabredete und dann nicht erschien, ihr aber nicht sagte, dass er nicht käme. Dann saß sie allein im Wohnwagen neben der Baracke mit seinem Geist und einer Flasche Wein und bürstete ihr dunkles Haar, weil er das liebte, das wusste sie.
    In diesen Nächten muss sie sich als eine Frau erlebt haben, die durch Sehnsucht einsam wurde. Eine, die weder auf der einen noch auf der anderen Hochzeit tanzte – der einen nicht, die so selbstverständlich unter ihren eigenen Leuten gefeiert wurde, und der anderen nicht, die in dem Haus stattfand, zu dem sie keinen Zutritt hatte. Ein oder zwei Mal wird sie ihn draußen im Garten gesehen haben, wo er sich halblaut mit der einen oder anderen Frau unterhielt und ihre Zigaretten im Dunkeln glühten, wird sie leise, ungezwungen miteinander haben lachen hören. Und wenn er danach doch noch zu ihr kam, wird sie gefürchtet haben, dass er diese andere Frau in ihr Bett mitbrachte.
    Manchmal wird sie wohl überlegt haben, sich von ihm zu trennen, aber dann gelang es ihr nicht, sich ihre Liebe und ihr Mitgefühl aus dem Herzen zu reißen. Und da waren ja noch seine Wärme und Zuneigung, die sie bei ihm hielten, denn er war ein liebevoller Mann, und da waren die Zärtlichkeit seiner Berührung und das Zusammenwachsen ihrer Körper, die einander im Lauf der Jahre so gut kennengelernt hatten, dass sie in voller Erregung und mitten in der Liebe in der Lage waren, zwischen Wachen und einer Art Schlafen hin und her zu wechseln.
    Ihr Bruder, auch er ein Obstpflücker, wird nicht begriffen haben, woher die Veränderung kam, die jeden Sommer mit ihr vorging, und das wird er ihr wohl gesagt haben. Sie wird sich, um ihr jähes Schweigen, ihre Geistesabwesenheit zu erklären, auf das Fernsein der Schwestern, die Sorge um den alten Vater, ach, alle möglichen Gründe berufen haben. Nie hätte sie ihn betrogen, ihren Saisongeliebten. Ob es ihrem Sohn auffiel, werde ich nie wissen, aber sie muss sich doch gefragt haben, ob er nicht eines Tages die Ergebenheit bemerken musste, in die sie jeden Sommer aufs Neue verfiel, ihre Bereitwilligkeit, ungewappnet zu sein. »Amor« , hatte sie in jener Nacht gesagt. »Liebe«, sagte meine Mutter gestern Nachmittag, als sie sich an Teo erinnerte.

    Als ich heute durch den Bach watete und später am See stand, in dem Mandy so gern geschwommen ist, und an Teo und Mandy dachte, waren wir noch Kinder, und nichts Düsteres war in unserem Leben. Noch war in keinem von uns etwas zerbrochen – nicht mal in meinem Onkel, meiner Tante. Dann dachte ich an Sie, Vahil, wie Sie zur selben Zeit in Ihrer Kindheit in Ottawa einsam waren, wie Ihnen täglich Ihr Anderssein vor Augen geführt wurde, wie Sie die Reise in den Orient auf sich nahmen, nur um zu erleben, dass Ihnen auch dort Ihr Anderssein vor Augen geführt wurde. Diese hoffnungsvollen, formlosen Gebetszusammenkünfte, bei denen Sie Vorbeter waren und noch sind, und der Trost, den Sie daraus schöpfen. An das alles musste ich denken.
    Diese ganzen anstrengenden Verwandlungen, das Abwerfen verschiedener Häute, gefolgt von den mühseligen Wanderungen, über weite Strecken offenes Gewässer und ebenso weite Landstriche hinweg, mit Mexiko, Nordamerika, Kandahar als Ziel und Ausgangspunkt. Diese Sehnsucht in uns, alles in einer wohlgeordneten Zellstruktur zusammenzubringen, und dann die herzzerreißende Ahnung, dass es uns trotz bester Absichten nie so richtig gelingen wird. Sie wissen ja, dass die Monarchfalter der vierten Generation anders als ihre Vorfahren, die nur sechs Wochen leben und sich auf dem Weg nach Norden paaren und sterben, die stärksten sind; sie halten volle neun Monate durch und sind imstande, an den Ort zurückzukehren, von dem sie aufgebrochen sind, zu überwintern, sich zu paaren und den ganzen Zyklus von vorn beginnen zu lassen.
    Die Spiele des Sommers sind vorbei. Bald ist es wieder so weit, dass der Winteralltag einzieht und das Leben bestimmt –
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