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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum
Autoren: Jane Urquhart
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entstanden war. Ich hatte kein Papier dabei, konnte kein Schiffchen falten, aber natürlich musste ich daran denken.
    Ich habe festgestellt, dass es mir unmöglich ist, den Versgarten eines Kindes ein zweites, drittes, viertes Mal zu lesen, ohne mir unbewusst ein oder zwei Gedichte einzuprägen. Dasselbe gilt für Emily Dickinson. Als ich durch diesen Bach watete und mich der hellen Lichtung näherte, wo der See hinter den Bäumen in der Sonne glitzert, debattierten diese beiden Stimmen aus dem neunzehnten Jahrhundert Seite an Seite in meinem Geist miteinander, ohne dass die eine oder andere sich durchsetzen wollte. Stevenson sagte:
    Golden wie in Träumen
    Leuchtet hier der Sand,
    an den alten Bäumen
    strömt der Fluss entlang.
    Und Dickinson antwortete:
    Steuerlos! Ein kleines Schiff steuerlos!
    Und die Nacht sinkt herab!
    Lenkt denn keiner ein kleines Schiff
    Bis in die nächste Stadt?
    Neruda kam mir dann in den Sinn. Seine schiffbrüchige Liebe.

    Als ich gestern im Golden Field war, nahm ich eines meiner Fotos von dem Baum am Ende des Wegs mit. Meine Mutter hielt es lange in der Hand, ehe sie aufstand und nach ihrer Brille suchte, um es genauer betrachten zu können. Dann setzte sie sich wieder, vertiefte sich abermals in das Bild, und schließlich blickte sie auf und sah mich traurig an. »Einmal ging ich bis zum Ende des Weges, um mir die Schmetterlinge anzusehen, und fand dort Teo, den mexikanischen Jungen, neben dem Baum stehen. Er war allein und ich ebenfalls. ›Von zu Hause‹ – ich glaube, das war es, was er sagte – ›von zu Hause‹. Erstaunlich, wie genau ich mich daran erinnere. Am Anfang wusste ich nicht, wovon er sprach. Damals war er noch recht klein, konnte noch nicht gut Englisch. Dann wurde mir klar, dass er die Schmetterlinge meinte.« Sie hielt inne. »Er war Stanleys Kind, weißt du. Stanley muss doch sehr an ihr gehangen haben … « Wieder schwieg sie eine Weile, als suchte sie in ihrer Erinnerung nach Dolores’ Namen. »Und an dem Jungen«, fügte sie hinzu. »Sicher hat er Teo geliebt.«
    Ich sank langsam auf das eine antike Sofa, das meine Mutter aus dem Haus mitgenommen hatte. Ich stellte fest, dass sich das geschwungene Holz der Armlehne von der Polsterung zu lösen begann. Das wird man reparieren müssen, dachte ich. Irgendwann wird man das reparieren müssen.
    Ich hatte es nicht gewusst. Wie ein Phantom klang mir Mandys Stimme in den Ohren. Ich hab’s nicht gewusst, okay? Ich hab’s nicht gewusst! Ihr Nichtwissen damals galt dem Keim einer heimlichen Teenagerliebe, aber es hatte nicht mehr gebraucht als mein Zuknallen der Autotür, um sie, obwohl sie selbst in tiefer Verzweiflung war, diese ganze Heimlichkeit, diese ganze Liebe erkennen zu lassen. Wie kann es sein, dass ich nichts davon geahnt habe, nichts von den gemeinsamen Zellen, dem genetischen Erbe? Dabei hatte mein Onkel doch immer darauf bestanden, dass wir Teo mitspielen ließen, ihn zu einem von uns machten. Ein Vetter von mir, dachte ich jetzt. Jahr um Jahr hatte mein Onkel dieses Geheimnis gehütet. Und über all die Jahre hin entwickelte sich, während er seine Geschichten erzählte, eine Parallelgeschichte und wuchs heran in Gestalt eines Kindes, das er selten sah und am Ende, als Folge derselben, unlebbaren Liebe, aus der dieses Kind hervorgegangen war, für immer verlor.
    »Hast du es die ganze Zeit gewusst?«, stieß ich hervor; ich konnte kaum sprechen.
    »Ich habe Stanley einmal zusammen mit dem Jungen beobachtet, und da war … « – auch ihr fiel es schwer – »… da war was, das ich zu dem Zeitpunkt nicht benennen konnte. Ich sah, wie er dem Jungen übers Haar strich.«
    »Das kann doch nicht alles gewesen sein. Bestimmt hat er was gesagt.«
    »Gesagt hat er nichts. Aber dieses eine Mal, von dem ich vorhin erzählt habe, bei dieser Begegnung am Schmetterlingsbaum, reckte der Junge seine Hände und hatte die Finger gespreizt, wie um mir begreiflich zu machen, dass er die vielen Schmetterlinge meinte. Ich hatte Stunden meiner eigenen Kindheit damit zugebracht, Hände wie diese von Leitersprossen und Ästen loszueisen, wenn ich Stanley gut zuredete, vom Baum zu steigen.« Sie betrachtete ihre eigenen, ähnlichen Hände, jetzt Jahrzehnte älter als die meines Onkels, ein halbes Jahrhundert älter, als Teos Hände gewesen waren. »Die Hände«, sagte sie, »waren exakt gleich, bis hin zur Form der Fingernägel.«
    Das war also die entscheidende Beobachtung. Aber unseren Beobachtungen und
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