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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum
Autoren: Jane Urquhart
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Feldsteine der Hausmauern, den See mit dem Ausläufer der weit ins Wasser ragenden Landzunge. »Schön«, sagte er, zum Ufer gewandt. »Natürlich gibt es da Fossilien. Tausende, sagte sie. Sie nannte sie versteinerte Schnecken.« Er kram te in einer Jackentasche. Die Sonne blendete ihn, er kniff die Augen zusammen, und ich starrte erschrocken auf einen Ammoniten in seiner Handfläche. Ich wusste, von wem er den hatte. Jetzt wusste ich es. Ich wusste, wer er war.
    Mandys Verzweiflung, ihr Leiden, stand leibhaftig vor mir: die Verkörperung von groß, dunkel, gut aussehend.
    Ich hob die Hand. »Sagen Sie nichts.«
    Er berührte meinen Arm, als ich mich von ihm abwandte, zog seine Hand aber sofort wieder zurück. Blind ging ich davon, zum Ufer hinunter. »Warten Sie«, sagte er. »Bitte.«
    Jetzt folgte er mir. »Sagen Sie nichts mehr«, warnte ich ihn. »Ich möchte wirklich, dass Sie wieder gehen.«
    Er sagte zwar nichts mehr, aber er ging auch nicht. Er setzte sich in den Uferkies und stützte den Kopf in die Hände und fing zu weinen an.

    Sie hätten in Galauniform erscheinen sollen, das wäre das Mindes te gewese n, hätten im Gras stehen sollen wie die einschüchternde Autorität, für die ich Sie gehalten habe. Kampfuniform wäre auch gut gewesen: Knobelbecher und Waffen und Tarnanzug. »Das rohe, rohe Herz eines Rohlings, wie deins« lautete eine Zeile, die ich in irgendeinem von Mandys Gedichtbänden gelesen hatte. Sie hätten offizielle Papiere in der Hand halten sollen, einen Durchsuchungsbefehl, einen Haftbefehl, selbst Ihr Offizierspatent wäre angemessener gewesen als dieses Relikt aus der Gegend hier, das Mandy in den Kampf mitgenommen hatte. Stattdessen standen Sie da in Jeans und T-Shirt, nicht mit geballter Faust, sondern mit offener Hand und einem versteinerten Andenken an eine ausgestorbene Spezies darin, mit sorgenvollem, gequältem Ausdruck.
    Und Sie kamen mir zu jung vor, trotz der weißen Fäden in Ihrem dunklen Haar, viel zu jung, fast knabenhaft, Ihre Schultern waren steif und unbeholfen, und Ihre Kopfhaltung hatte etwas eigenartig Schüchternes, wenn Sie mich ansahen und gleich wieder den Blick abwandten. Dann gingen Sie weiter zum Seeufer, Mandys Seeufer, setzten sich nieder und weinten, und ich war Zeugin Ihrer Trauer.
    Ich sagte nichts. Aber Sie blieben.
    »Ich war vorhin auf dem Friedhof«, sagten Sie und warfen einen Stein nach dem anderen ins Wasser, wie es jedes männliche Wesen, das ich gekannt habe, seit jeher an diesem Kiesstrand hier getan hat. Sie waren zu jung, fünf Jahre älter als Mandy, eigentlich im mittleren Alter, aber ganz anders als in meiner Vorstellung. Umgeben von einer fast greifbaren Aura, die eine Mischung aus Hunger, Neugier und Schmerz war.
    »Sie wussten von mir«, sagte ich.
    »Ja, sie hat von ihrer Cousine Liz gesprochen.« Sie sahen mich auf diese schüchterne Art an und gleich wieder weg. »Sie hat von Ihnen erzählt, Ihren Schmetterlingen.« Sie hoben den Kopf und blickten sich um, aber leider muss ich sagen, dass in dem Moment kein einziger Monarchfalter irgendwo zu sehen war.
    »Sie wussten, dass Mandy und ich miteinander geredet haben.«
    »Dass Sie beide über mich geredet haben, hat sie mir nie erzählt. Aber ich wusste es.«
    Ich gab darauf keine Antwort; ich misstraute Ihren Beweggründen. Waren Sie hergekommen, um mich auf Ihre Seite zu ziehen?
    »Zweite Generation«, sagten Sie, als Sie meinen argwöhnischen Blick bemerkten. »Daher kein Akzent.«
    Da begriff ich, dass Sie seit Jahren bei jedem Misstrauen, das Ihnen entgegenschlug, dachten, es gehe dabei um Ihre Herkunft.
    »Wie heißen Sie?«, fragte ich. »Major … ? Colonel … ?«
    »Vahil«, sagten Sie, ohne auf meine Frage nach Ihrem Dienstgrad einzugehen. »Ich heiße Vahil.« Als ich schwieg, sagten Sie, das sei ein kurdischer Name.

    Wir gingen am Ufer entlang bis zu der Stelle, an der Teo und ich unsere Papierschiffchen hatten schwimmen lassen, ich machte Sie auf die Kalksteinplatten aufmerksam, und wir redeten eine Weile über die Entstehung von Fossilien. Sie fragten, ob Sie mich von irgendetwas abhielten, und ich verneinte und nahm Sie ins Haus mit, machte ein paar Sandwiches zum Mittagessen. Wir saßen auf der Veranda, aßen und schauten auf den See hinaus. Sie lächelten, als ich Ihnen erzählte, wie gern und viel Mandy geschwommen war und dass sie immer so lang im Wasser blieb, bis ihre Lippen blau wurden und ihre Schultern zitterten.
    »An Land war sie genauso, drüben, wissen
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