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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum
Autoren: Jane Urquhart
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Teil meines Hirns versuchte sich auszudenken, wie das zu bewerkstelligen wäre, während ein anderer Teil die Rosen meiner Tante erspähte, leichter zugängliche Opfer.
    Eine beträchtliche Anzahl Sträucher trieb bereits in Ufernähe im Wasser, als mich Mandy hinterrücks anfiel, mir mit einer seltsamen Umklammerung von hinten die Arme an die Seiten presste und mich festhielt.
    »Ich hab’s nicht gewusst«, sagte sie immer wieder, und weil ihr Kopf neben dem meinen war, drang ihre Stimme direkt in mein Ohr. »Ich hab’s nicht gewusst, okay? Ich hab’s nicht gewusst!« Von meinen zerstochenen Händen verteilte sich das Blut über meine Shorts, und als Mandy mich losließ und ich mir Tränen und Regen aus dem Gesicht wischte, wurde auch mein Gesicht blutig. Mandy riss ein durchnässtes Handtuch von der Wäscheleine und versuchte mich sauber zu machen. »Ich bin ein Idiot«, sagte sie, weinend, und wischte mir Augen und Mund mit dem nassen Tuch. »Es wird nie mehr so sein, wie es war, nie, nie mehr wird es so sein, wie es war.« Sie bog meine blutenden Fäuste auf, erst die eine, dann die andere, um sie nach Dornen abzusuchen. »Scheiße, Liz«, sagte sie und versuchte mit zitternden Fingern einen schwarzen Stachel herauszuziehen.
    Wie zerbrechlich jedes Leben ist. Wir mähen eine Wiese und töten tausend Schmetterlinge. Der Lärm des Mähwerks, der dumpfe Aufprall eines Fausthiebs auf einem Körper, die Explosion einer amerikanischen Bombe über einer Stadt im Mittleren Osten – vielleicht ist der einzige Unterschied bei alldem nur die Größenordnung. Wir bewegen uns zielsicher auf das Getöse zu, aber was das Getöse uns dann zeigt, akzeptieren wir auch wieder nicht. Was habe ich letztlich getan – was hat irgendwer von uns getan, um die Kette der Ereignisse, die zur Katastrophe führte, zu unterbrechen? Ich wollte es nie wahrhaben, aber irgendwie war meine Tante, so brutal und widerlich ihre Aktionen auch sein mochten, in diesem einen Augenblick, in dem alles, was sie übersehen oder ignoriert haben muss, über ihr zusammenschlug und Wut und Empörung überkochen ließ, noch die Ehrlichste von uns. Mein Onkel, der nackt mit dem Gesicht zur Wand stand, beging mit seiner Passivität Verrat an allen. Seine Furcht und tatenlose Verweigerung waren genau so, als hätte er seiner Frau gesagt: Mäh die Wiese, schlag zu, übernimm du die Verantwortung. Dieser Mangel an Lebensenergie in einem entscheidenden Augenblick ist es, der letztlich die Tragödie herausfordert. Er konnte sich nicht überwinden, Halt! zu sagen.
    Mandy und ich waren noch im Innenhof, als der Polizeiwagen wieder auf die Farm zukam. Als hätten sie uns noch nie gesehen, gingen Dolores und ihr Bruder, eingekapselt in Schock und Trauer, direkt an uns vorbei zu ihrer Unterkunft. Wir rührten keine Hand, um diese kurze Reise zu unterbrechen, sondern hefteten uns dem einen Polizisten, der sie gefahren hatte, an die Fersen und folgten ihm ins Haus.
    Mutter, Tante, Onkel waren in der Küche. Jemand, vielleicht einer der Jungs, hatte ein paar Stühle zurückgetragen, und auf der Arbeitsplatte stand eine offene Flasche; beide Frauen hielten ein Glas in der Hand. Jetzt war es mein Onkel, der von Zigarettenrauch umwölkt am Fenster stand und seiner Schwester wie seiner Frau den Rücken zukehrte. Er drehte sich auch nicht um, als wir hereinkamen.
    »Nun?«, fragte meine Tante.
    Der Polizist nahm seine Mütze ab. Es folgte eine flüchtige Diskussion darüber, welche Dokumente benötigt würden, um Teo nach Hause zu überführen, und dass die Polizei die zuständigen kanadischen Behörden kontaktiert habe, die sich ihrerseits mit ihren mexikanischen Amtskollegen in Verbindung gesetzt hätten.
    Meine Tante sagte, sie habe mit der Fluggesellschaft gesprochen, Tickets seien hinterlegt. Mir wurde klar, dass dies das erste und letzte Mal war, dass Teo und seine Mutter vom Passagierflughafen abreisten, nicht vom Frachtterminal.
    »Gut«, sagte der Beamte.
    Meine Mutter bot ihm Kaffee an. Sie war aufgestanden, trat an den Herd. Als er den Kopf schüttelte, stellte sie die Tasse wieder ab. Meine Tante hob ihr Glas an den Mund. Niemand sprach. Eine bedeutungsvolle Stille erfüllte den Raum, und ich spürte Trauer und Elend in mir aufsteigen wie dunkles Wasser.
    »Um eines kann man immerhin froh sein«, sagte der Beamte endlich, während er die Mütze wieder aufsetzte und den Schirm zurechtrückte.
    »Ach ja?«, sagte mein Onkel, noch immer ohne sich umzudrehen. »Und was
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