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Das Unsterblichkeitsprinzip

Titel: Das Unsterblichkeitsprinzip
Autoren: Jeffrey Lang
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    Siebzig Jahre zuvor
     
     
    W enn ich irgendwann einmal die Wahl habe, werde ich an einem Ort leben der heiß ist, dachte Noonien Soong. Ein gemäßigtes oder warmes Klima genügt mir nicht. Ich will es heiß.
      Soong überprüfte das Seil, stützte sich mit den Beinen an der Felswand ab, hob die Hände vor den Mund und behauchte sie dreimal schnell hintereinander, nachdem er die Atemmaske ein wenig zur Seite geschoben hatte. Die Batterien für die Wärmspulen in den Handschuhen enthielten kaum mehr Strom. Beim ersten Gespräch über diese kleine Expedition hatte Ira Graves darauf hingewiesen, dass Soong eine Ausrüstung fürs Klettern in einer kalten Umgebung zusammenstellen sollte. Noonien Soong hatte sich Umweltbedingungen vorgestellt, wie man sie in den Rocky Mountains von Nordamerika oder schlimmstenfalls in den Alpen vorfand. Aber dies hier… Die Temperaturen lagen ein ganzes Stück unter dem Gefrierpunkt und die Atmosphäre war sehr dünn. Hinzu kamen tückische Felsformationen. In den knapp zwei Jahrzehnten seines Lebens hatte Soong einige schwierige Kletterpartien hinter sich gebracht, aber selbst mit den Antigravmodulen sah er sich hier einer recht problematischen Situation gegenüber.
      Er beschloss, Graves die Schuld an allem zu geben. Warum auch nicht? Graves mochte auf arrogante Weise brillant sein – oder auf brillante Weise arrogant; Soong wusste nicht genau, welche dieser beiden Möglichkeiten zutraf –, aber das bedeutete nicht, dass er perfekte Kontrolle über alles hatte.
      Soong verglich die akademische Welt mit einem See, in dem die kleinen Fische – Studenten wie er – von größeren Fischen gefressen wurden, von Assistenten wie Graves, die noch größeren Fischen zum Opfer fielen, wie zum Beispiel Dr. Emil Waslowick, der zu den allergrößten Fischen zählte.
      Soong hätte gern geglaubt, dass er mit seiner hervorragenden Arbeit auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz Waslowicks Interesse geweckt hatte. Aber Soong kannte das System gut genug, um zu wissen, dass seine Erfahrungen als Bergsteiger bei dieser Sache eine wichtige Rolle spielten. Vielleicht hatte Waslowick davon gehört, dass er einmal am Uhrturm des Campus emporgeklettert war. Du solltest lernen, nicht jedem plötzlichen Drängen nachzugeben, Noonien… Nun, Graves hatte ihn angerufen und ihm mitgeteilt: »Nächste Woche erwartet Sie ein kleiner Ausflug.« Es war keine Bitte und Soong wusste, dass er nicht ablehnen konnte. Und deshalb war er jetzt hier: auf halbem Wege eine neunzig Meter hohe Felswand hinunter. Die beiden Männer, die ihn hierher gebracht hatten, befanden sich auf einem Sims zwanzig Meter weiter oben. Es muss bessere Möglichkeiten geben, im Leben voranzukommen, dachte Soong.
      Der letzte Scan hatte ihm einen anderen Felsvorsprung etwa zwölf Meter weiter unten gezeigt, doch das Licht der am Gürtel baumelnden Lampe reichte nicht, um die Dunkelheit zu durchdringen. Er musste seinen Fähigkeiten vertrauen und langsam klettern, wie er es von seinem Vater gelernt hatte. Mit der Zungenspitze aktivierte Soong den Kommunikator der Atemmaske und sagte: »Ich setze den Abstieg fort. Zeigt der Tricorder irgendetwas Ungewöhnliches unter mir?«
      »Nein«, erwiderte Graves zu laut. »Nichts. Die Felswand ist stabil. Sie sollten auf keine besonderen Schwierigkeiten stoßen.«
      Erneut berührte Soongs Zungenspitze den Schalter. »Nicht so laut, Ira. Sonst stürze ich noch ab.«
      Waslowick aktivierte ebenfalls seinen Kommunikator. »Ist alles in Ordnung dort unten, Noonien?«, fragte er. Seine Stimme klang ernst und gleichzeitig sanft.
      Soong lächelte. Dies war das vierte Mal in zwanzig Minuten, dass ihm Waslowick diese Frage stellte. Aus irgendeinem Grund überraschte es ihn, dass sich die größte Kapazität auf dem Gebiet der Maschinenintelligenz als so… großväterlich erwies. Was habe ich erwartet? Vielleicht jemanden, der in syntaktisch perfekten Sätzen spricht, während er dahingleitet wie ein Roboter auf Kugellagern? Er erhob keine Einwände gegen Waslowicks großväterliche Art, denn sie bot einen guten Ausgleich zu Graves, der immerzu herablassend und ganz allgemein unausstehlich war.
      Soong rief sich innerlich zur Ordnung. Das ist genau der richtige Weg, um in Schwierigkeiten zu geraten. Sein Vater hätte ihm eine Ohrfeige gegeben. Besinn dich auf das Jetzt.
      Denk daran, wohin du deinen Fuß setzt. Vermutlich lag es an der Kälte; dadurch fiel es ihm schwerer als sonst,
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