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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum
Autoren: Jane Urquhart
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Schlussfolgerungen gehen stets Hypothesen voraus. Danach wollte ich sie jetzt nicht mehr fragen; schließlich kommen Hypothesen oft in Gestalt unangenehm düsterer Fragen daher. An den Verdacht, der vielleicht vorausgegangen war, hätte sie sich bestimmt nicht gern erinnert, geschweige denn, ihn laut ausgesprochen.
    »Teo«, sagte ich.
    »Nein, er wusste es nicht. Sicher nicht.« Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Aber warum darüber reden?«
    Mir war klar, dass darauf keine Antwort von mir erwartet wurde.
    »Auch als Stanley fort war«, sagte meine Mutter, »war Sadie überzeugt, dass dieses Verhältnis, das sie aufgedeckt hatte – diese Frau –, dass ihm die ganze Sache nicht weiter wichtig gewesen sein kann.« Sie schwieg einen Moment, dann fügte sie hinzu: »Aber sie war ihm wichtig. Einmal hörte ich, wie er sie Mariposa nannte, und sein Tonfall und die Art, wie er sie ansah, wenn er sie mit diesem Namen ansprach, haben mir die Augen geöffnet.«
    Während ich meiner Mutter zuhörte, kam mir ein sekundenbruchteilkurzer Moment in jener furchtbaren Nacht in Erinnerung, nämlich der Gesichtsausdruck meines Onkels, bevor er sich abwandte und zur Wand drehte. Was ich in seiner Miene gesehen hatte, waren – das begriff ich jetzt – die letzten Ausläufer von Leidenschaft und das Heraufdämmern von Entsetzen, Schwäche und Furcht, alles zugleich und alles überlagert von Scham. Das Wissen um die eigene Schwachheit, seine Unfähigkeit, in Anwesenheit seines Sohnes zu reagieren, hatten diese Scham übermächtig werden lassen. Er war zu Stein erstarrt, wie damals, mit zwölf, auf der Leiter, inmitten von Äpfeln und Blättern und der Wut seines Vaters.
    »Nein, es war, wie es sein sollte«, sagte meine Mutter. »Da bin ich mir sicher. Außer mir hat es niemand gewusst.« Sie starrte mich eine Zeitlang an. »Und außer Dolores natürlich«, sagte sie, was so naheliegend war, dass sie es nicht hätte erwähnen müssen; wichtiger war, dass sie zum ersten Mal die Geliebte meines Onkels beim Namen genannt hatte.

    Dolores wird vermutlich zuerst etwas gehört haben, sie war die Erste, die das ferne Geräusch näher kommender Schritte über das Brandungsrauschen seiner Hände in ihrem Haar, seines Geflüsters, beider Herzklopfen hinweg die Oberhand gewinnen ließ. Von wachsamerem, aufmerksamerem Naturell als er, wird sie in seiner Umarmung kaum merklich erstarrt sein. Hat er es denn gemerkt? Oder war er zu tief in die Lust versunken? Der Alkohol wird auch eine gewisse Distanz hergestellt haben – nicht von ihr, von ihr nie, aber eine gewisse Entrücktheit vom Rest der Welt, was natürlich Zweck der Sache war. Denn es war der Rest der Welt, der jetzt nahte, der Rest seines Lebens, von ihr geahnt, von ihm vorübergehend vergessen. Die volle Wucht dieses Lebens, die ihn bald treffen würde, zusammen mit Wut und Leid und allem, dem er hatte ausweichen wollen.
    Der Sommer war fast vorbei. Die Schmetterlinge sammelten sich. Die Zikaden hatten ihre nächtlichen Tamburine gehoben, waren gehört, identifiziert und kommentiert worden und dann in eine sirrende Dunkelheit zurückgesunken, die ignoriert und durchschlafen werden konnte. Da waren natürlich noch andere Geräusche – ein Windrauschen in den Bäumen, ein Güterzug in der Ferne, das leise Plätschern der Wellen am Ufer. Da war das Geräusch des Zusammentreffens von nackter Haut und Laken, so zart, dass es sich anhörte, als gleite ein Finger über Papier. Und sicher wurde es ab und zu für einen Moment heller im Raum, vielleicht drang der Widerschein eines vom Leuchtturm vorüberhuschenden Strahls herein, oder es schimmerte der Mond zwischen zwei Wolkenbänken hervor. Vielleicht brannte in der Baracke eine Lampe, wo jemand nicht schlafen konnte und einen Brief schrieb, der dann in einem fernen Land in irgendeiner Küche gelesen würde.
    Dieser Schmerz, diese Wut waren jahrelang sämtliche Wege der Farm entlanggeschlichen, hatten sich von einem Zimmer zum anderen bewegt, von einem Feld zum nächsten und nach einem Fleck gesucht, um sich niederzulassen, einem Punkt, der sich benennen ließ; einem Ort, um anzuhalten und Wurzeln zu schlagen und eine monströse schwarze Blüte zu treiben. Und hatte mein Onkel, als diese Blume schon gepflanzt war, noch immer den geheimen Namen Mariposa geflüstert, bei dem er sie manchmal nannte, die Frau, die jetzt aufgeschreckt in seinen Armen lag? Und hat sie den Kosenamen annehmen können? Das ist eine der Fragen, die ich mir heute
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