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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher
Autoren: Howard Norman
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»Es tut mir leid, Ihr gewünschter Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte, versuchen Sie es später noch einmal. « Die Szene dauerte ungefähr eine halbe Minute. Trotzdem war ich beeindruckt, und auch wenn in Widow’s Walk keine richtigen Stars mitspielten und der Film kein großer Kassenschlager wurde, stellte ich mir doch vor, dass Reese dadurch Zugang zur glitzernden Welt der Schauspieler hatte. Ich fragte mich, ob sie Loretta Young getroffen hatte. Oder Tyrone Power? War sie vielleicht Jean Harlow begegnet? Als die wenigen Zuschauer aus dem Kino gingen, sagte ich: »Da haben sie aber echt Glück gehabt, dass sie jemanden gefunden haben, der so viel Erfahrung als Telefonistin hat wie Reese!«
    Meine Eltern bogen sich vor Lachen. »Liebling«, sagte meine Mutter, »ich sag’s ungern, aber es ist nun mal eine Tatsache, dass Reese Mac Isaac in ihrem Kurzauftritt genau auf dem Platz sitzt, wo sie sowieso jeden Tag außer Sonntag von sechs bis drei arbeitet.«
    »Da braucht man nicht gerade großartig zu schauspielern«, fügte mein Vater hinzu.

    »Das ist mir egal«, sagte ich. »Sie hat es jedenfalls gut gemacht. «
    Eine Woche nach dem Begräbnis, als ich auf dem Sofa lag und Whisky trank, um besser einschlafen zu können, wurde mir klar, dass ich es meinem Vater nicht übelnahm, dass er Reese geliebt hatte. Das Gleiche galt für meine Mutter, auch wenn ich von allen Seiten zu hören bekam, es sei unmoralisch gewesen, was mir aber, ehrlich gesagt, ziemlich schnuppe war. Ich wusste, dass sich meine Eltern nicht mehr liebten. Schon als ich acht oder neun war, wusste ich das, eigentlich noch früher. Sie behandelten einander höflich und korrekt – »Gute Nacht, Schatz«, sagten sie, dann ging er in sein Schlafzimmer und sie in ihres.
    Ich glaube, ich war trotzdem froh, dass wir alle unter einem Dach lebten. Außerdem führte ich damals in der Highschool unsere Fechtmannschaft, und Fechten war das, was mich am meisten interessierte. Ich nahm an allen möglichen Turnieren teil, einmal sogar in St. John’s, Neufundland. Nach dem Tod meiner Eltern hörte ich aber mit dem Fechten auf, verlor irgendwie den Bezug dazu. Ich hatte Reese Mac Isaac eigentlich immer sehr nett gefunden – einmal leistete ich mir sogar eine Theaterkarte, als sie in einer Aufführung von Romeo und Julia eine Zofe spielte –, aber ich kann nicht behaupten, dass ich viel über sie wusste. An einem Sommerabend, ich war fünfzehn damals, sah ich Reese in einem Nachthemd – es sah aus wie Seide und hatte ein Muster aus großen Lilien, ein Nachtgewand, das mir für eine Stadt wie Halifax ziemlich exotisch vorkam. Sie goss die drei Pflanzen auf der Fensterbank in der Küche mit einer Pipette. Ich dachte mir: Das ist aber sparsam, vielleicht sogar knausrig .
    Nach dem Selbstmord meiner Eltern spielten meine Gefühle verrückt – das reichte von glühendem Zorn über Verwirrung
bis hin zu einer Traurigkeit, die mich zu den unmöglichsten Zeiten ins Bett gehen ließ. Sicher ist, dass es in dieser Zeit mit meinen schlaflosen Nächten begann. Meine Eltern sind auf dem Camp-Hill-Friedhof begraben. Sie wurden im Abstand von einer Stunde beerdigt, beide von Reverend Carmichael, damals Pfarrer der Harbor Methodist Church, der Kirche, die meine Eltern eher unregelmäßig besuchten.
    Reverend Carmichaels Trauergottesdienste hatten immer den gleichen Wortlaut. Die Fechtmannschaft kam auch zum Begräbnis. Meine Mutter war Buchhalterin in der HMC Dockyard, und viele ihrer Kollegen erwiesen ihr die letzte Ehre. Mein Vater hatte einen Schreibwarenladen mit Schreibmaschinenreparatur in der Grafton Street, und ich erinnere mich, dass sein Geschäftspartner Mr. Amoury zusammen mit Mrs. Amoury und ihren zwei Töchtern an der Beerdigung teilnahm. Als er mir die Hand schüttelte, fiel mir auf, dass Mr. Amourys Finger schwarze Flecken von Schreibmaschinenfarbband hatten.
    Nach der Zeremonie gab ich Reverend Carmichael fünfzig Dollar in einem Umschlag. Er sah hinein und wippte mit dem Kopf vor und zurück. »Weißt du«, sagte er, »normalerweise nehme ich fünfzig Dollar pro Person, aber das war ja …« Er fand nicht die Worte, um den Satz zu Ende zu sprechen, sondern drehte sich um und ging. Während der Beerdigungen hatte es genieselt, aber danach hatten die Leute ihre Regenschirme geschlossen. Während sie sich in alle Richtungen verstreuten, sprach ich kaum ein Wort mit jemandem. Wie benommen ließ ich mich treiben und lauschte hier und dort, was
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