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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher
Autoren: Howard Norman
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Rauschen sei in Wahrheit irgendeine unverständliche Mitteilung meiner Mutter und meines Vaters aus dem Jenseits. Wollten sie mir etwas sagen? Was war die Botschaft?
    Ich nehme an, deine Mutter hat dir das erzählt – vielleicht auch nicht –, aber ich sage es dir ganz direkt. Meine Mutter Katherine und mein Vater Joseph sind am selben Abend von verschiedenen Brücken in Halifax gesprungen. Ich war siebzehn. Das gab einen richtigen Skandal damals. Große Schlagzeilen in der Halifax Mail (am nächsten Tag stand es immerhin noch auf Seite zwei und am Tag danach auf Seite vier; es war mitten im Krieg, deshalb war die Titelseite eigentlich den Siegen und Rückschlägen der Alliierten vorbehalten und den Verbrechen der Achsenmächte). Ganz Halifax hat mich bemitleidet, ich war das Opfer einer ANRÜCHIGEN DREIECKSBEZIEHUNG, am 27. August 1941 innerhalb einer Stunde zum Waisen geworden, irgendwann zwischen sechs und sieben Uhr, also kurz bevor es um diese Jahreszeit zu dämmern beginnt. Es klingt vielleicht seltsam, aber nach dem ersten Schock war mir das, was passiert war, vor allem peinlich. Ich weiß noch, wie ich mich für meine Eltern schämte, als ich am Tag nach dem Begräbnis wieder in die Schule ging. Das spricht vielleicht nicht gerade für mich, aber es ist die Wahrheit. Am Abend überkam mich dann doch eine eigenartige Traurigkeit, und alles, was mir bis dahin vertraut war, wurde mir auf einmal fremd.
    Es ist jetzt sechsundzwanzig Jahre her, dass mein Vater von der Halifax-Dartmouth-Mautbrücke sprang, die den Highway 111 mit dem Bedford Highway verbindet, und meine Mutter von der Mautbrücke zwischen der North Street und der Windmill Road. Das Wasser war an dem Tag unter allen Brücken aufgewühlt und stürmisch, vom Bedford Basin bis zum Halifax Harbor, der Himmel war dunkel, und die Möwen wurden mehr hin und her getrieben als dass sie flogen – das sah ich von unserem Highschool-Klassenzimmer in der Barrington Street. Die Zeitungsausschnitte bewahre ich übrigens immer noch in
einer Schachtel auf. Da finden sich folgende Schlagzeilen: UN-GEWÖHNLICHES LIEBESDREIECK FÜHRT ZU DOPPEL-SELBSTMORD und GEHEIMNISVOLLE FRAU VERURSACHT FAMILIENTRAGÖDIE.
    Hast du schon einmal etwas von der Dichterin Emily Dickinson gelesen? Sie sagt, dass man, um zu reisen, nur die Augen schließen muss. Hier in meinem Haus in der Robie Street schließe ich manchmal nachts die Augen, und dann sitze ich wieder draußen auf der Veranda an jenem 27. August 1941, als plötzlich zwei Polizeiwagen vor unserem Haus stehen blieben. Du musst dir vorstellen, nur zehn oder fünfzehn Minuten vorher hatte ich einen Anruf bekommen und erfahren, was passiert war. Und ich saß da und jammerte, weil keiner da war und ich mir das Abendessen selbst machen musste.
    Im Highland Book of Platitudes , das ursprünglich in Schottland erschien, steht jedenfalls kein einziges Wort über den Fall, dass sich eine Frau in eine Frau verliebt und ein Mann sich in dieselbe Frau verliebt. Aber genau das war meinen Eltern passiert – und es ging dabei um unsere Nachbarin Reese Mac Isaac. 1941 war Reese Mac Isaac fünfunddreißig Jahre alt. Ihr Haar hatte die Farbe von dunklem Honig, sie war schlank und immer schick angezogen; mir erschien sie jedenfalls genauso attraktiv und geheimnisvoll wie eine der Frauen, die man in einer Parfumwerbung in der Saturday Evening Post sieht. Meine Eltern hatten die Zeitung nicht abonniert, aber sie lag in der Lobby des Lord Nelson Hotels in der Spring Garden Road gegenüber den Public Gardens.
    Reese arbeitete nämlich als Telefonistin in dem Hotel. Sie hatte daneben Schauspielunterricht genommen und 1937 in Widow’s Walk mitgespielt. Das war ein Film über eine Frau, deren Ehemann mit seinem Fischerboot in einem Sturm kentert
– am selben Abend, an dem sie mit dem gut aussehenden Dorfarzt flirtet. Vor lauter Schuldgefühlen und Reue wird die Frau wahnsinnig und verbringt ihre Nächte fortan auf der Aussichtsplattform auf ihrem Haus. Damals, als Widow’s Walk , übrigens eine »rein kanadische Produktion«, entstand, redete alles über diesen Film. Der größte Teil wurde in der Nähe von Port Medway gedreht – sie hatten sogar einen eigenen Leuchtturm dafür gebaut.
    Im Winter des folgenden Jahres lief Widow’s Walk in Halifax, und ich sah mir den Film mit meinen Eltern an. Gleich am Anfang hatte Reese Mac Isaac ihren Auftritt. Sie spielte eine Hoteltelefonistin! »Einen Moment, bitte«, sagte sie, dann hörte sie kurz zu.
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