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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher
Autoren: Howard Norman
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WAS WIRD DEINER TOCHTER VON DIR BLEIBEN
    Marlais, heute ist der 27. März 1967, dein einundzwanzigster Geburtstag. Ich schreibe dir das, weil ich nicht will, dass etwas, was ich dir nie gesagt habe, mein Leben noch länger bestimmt. Ich muss dir endlich von dem schrecklichen Ereignis vom 16. Oktober 1942 erzählen, an dem ich damals, mit neunzehn Jahren, beteiligt war.
    Deine Mutter Tilda Hillyer las oft in dem Buch The Highland Book of Platitudes . Sie kannte die vierhundertelf Seiten fast auswendig. Sie fand Anregung und Trost in diesem Buch, manchmal sogar die Lösung für irgendein Rätsel des Lebens. Aber eines ließen all diese Weisheiten und Plattitüden außer Acht: Niemand kann das Leben vorhersehen. Ein gutes Beispiel dafür ist, dass ich hier in Halifax so viele Jahre von Hotel zu Hotel zog und am Ende doch wieder im Haus meiner Kindheit in der Robie Street 58 in Halifax gelandet bin. Dabei hätte ich nie gedacht, dass ich dieses Haus noch einmal betreten würde.
    Und dort sitze ich nun, um drei Uhr nachts – ich schlafe sowieso nicht mehr viel –, und schreibe an meinem Küchentisch.
    Am Sonntag vor zwei Wochen schaute ich kurz in der Harbor Methodist Church vorbei. Das mache ich manchmal, eher aus Nostalgie und weniger aus einem richtigen Glauben heraus.
Jedenfalls, als ich reinkam, erzählte Reverend Lundrigan gerade irgendein altes Gleichnis von einer älteren Frau, die ihrem Sohn zuhört, wie er sich darüber auslässt, was einem alles an Kummer und Unglück im Leben widerfahren kann. Aber so viel er auch redet, der Mann in dem Gleichnis erwähnt mit keinem Wort den Punkt, der seine Mutter am meisten interessiert. »Was ist mit deiner Tochter?«, fragt sie ihn schließlich. »Hast du sie gesehen? Wie geht es ihr? Glaube mir, es kann etwas Wunderbares sein, wenn du sie wiederfindest.« Es stellt sich heraus, dass der Mann seine Tochter eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hat. »Regen, Wind, Hunger, Durst, Freude und Leid haben sie heimgesucht«, sagt die Frau, »nur ihr Vater hat sie nie besucht.« Sie hört ihm weiter zu und wird dabei immer trauriger, bis sie schließlich sagt: »Und was wird deiner Tochter einmal von dir bleiben?« Sie meint nicht irgendwelche Erbstücke. Sie meint auch kein Geld. Diese Dinge sind ihr völlig egal. Sie sagt: »Ich glaube, du trägst irgendein Geheimnis mit dir, das zwischen dir und ihr steht und zwischen dem Leben, das euch gegeben wurde.«
    Marlais, du weißt ja, wie die Leute damals in biblischen Zeiten geredet haben. Trotzdem, als ich die Kirche verließ, da dachte ich mir: Schon seltsam, durch welche Zufälle es passiert, dass wir uns etwas zu Herzen nehmen. Und in dem Moment wurde mir klar, dass das einzig Wichtige, das ich dir geben kann, das ist, was ich hier schreibe. Ich habe ein bisschen John Keats gelesen, und er hat mal sinngemäß gesagt, man sollte Erinnerung nicht mit Wissen verwechseln. Natürlich habe ich keine Ahnung, ob deine Neugier nicht schon nach einem oder zwei meiner Absätze in Abneigung umschlägt oder noch Schlimmeres. Aber ich hoffe schon, dass du diese Seiten durchsehen wirst. Und was immer du dir denkst, zu welchem Urteil
du auch kommen magst – eines musst du wissen: dass ich dich immer geliebt habe, immer.

WIE DEIN VATER EINE LEHRE ALS SCHLITTENMACHER IN MIDDLE ECONOMY, NOVA SCOTIA, BEGANN
    Im Highland Book of Platitudes steht unter anderem Folgendes: »Nicht alle Geister verdienen unsere Erinnerung in gleichem Maße.« Ich denke manchmal über diesen Satz nach. Vor allem über das Wort »verdienen«, weil es nahelegt, dass die Toten zu so etwas wie einem bewussten Bemühen fähig sind. Nimmt man diesen Satz ernst, muss man auch an ein Leben nach dem Tod glauben, nicht wahr? Wenn man den Gedanken weiterspinnt, dann scheint es bestimmte Menschen zu geben – nennen wir sie einfach Geister –, die besonders hartnäckig und geschickt sind und denen es besser als anderen gelingt, sich in unser Leben einzuschleichen.
    Meine Eltern sind solche Menschen. Wie soll ich das beschreiben? Ich versuch’s mal. Gestern Abend zum Beispiel, da saß ich an meinem Tisch. Es regnete leicht. Ich saß bei einer Tasse Tee und hörte ein Beethoven-Streichquartett – es war das Quartett Nr. 9 in C-Dur, mein Lieblingsquartett – in der Klassik-Sendung im Radio, als die Übertragung plötzlich gestört wurde und man nur noch Rauschen hörte. Vielleicht nehme ich das mit dem Radio zu persönlich, aber ich hatte schon wieder das mulmige Gefühl, dieses
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