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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher
Autoren: Howard Norman
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die Leute redeten. Da war zum Beispiel Oliver Tapper, der die Kolumne »Canadians at the Front« in der Sunday Mail schrieb. Oliver, der auch eine Sammlung mit patriotischen Gedichten herausgebracht hatte, war Stammkunde im Geschäft meines Vaters.
Er hatte es meistens sehr eilig und sagte, er müsse dringend noch einen Artikel abliefern. Wie er da auf dem nassen Gras des Friedhofs stand, meinte er: »Hier liegen sie jetzt, die arme Katherine dort drüben und der arme Joseph vor uns. Und wer läuft weiter frisch und munter herum? Diese Hure! Diese erbärmliche Möchtegernschauspielerin!«
    »Was redest du da, Oliver?«, protestierte Mrs. Tapper. »Du willst Gerechtigkeit? Du willst, dass sie für ihr unmoralisches Verhalten bestraft wird? Nun, dann vergiss nicht, dass sie nicht allein daran schuld war. Außerdem sind wir hier auf einer Beerdigung, also gib bitte Acht, was du sagst.«
    Oh, fast hätte ich’s vergessen, die merkwürdigste Schlagzeile von allen stand über einem Foto von mir (aus dem Highschool-Jahrbuch): JUNGE AUS HALIFAX VON BRÜCKEN ZUM WAISEN GEMACHT. Dabei war ich schon siebzehn, also kein kleiner Waisenjunge mehr. Die Schlagzeile klang so, als wären die zwei Brücken an allem schuld gewesen und nicht die Menschen, um die es ging.
    Man beschäftigt sich im Leben immer nur mit dem, womit man gerade zu tun hat; an jenem 27. August 1941 – es war erst der fünfte Schultag nach den Sommerferien – hatte ich, als ich in der Schule saß, keine Ahnung, welches Schicksal meinen Eltern bevorstand. Wir hatten noch zusammen gefrühstückt. Mein Vater war sehr gesprächig gewesen, und meine Mutter war auch nicht mürrisch oder trübsinnig. Später jedoch begann ich die Dinge ein bisschen anders zu sehen, nachdem ich die Zeitungsberichte gelesen und mit den Polizisten gesprochen hatte, die zu den Brücken geschickt worden waren.
    Officer Dhomnaill – er war in Irland zur Welt gekommen und hatte den Akzent beibehalten –, erzählte mir von meiner Mutter. »Ich hab versucht, sie davon abzubringen«, sagte er.
»Man redet mit dem Menschen, der in dieser verzweifelten Situation ist, damit er sich vielleicht an irgendwelche schönen Dinge in seinem Leben erinnert. Man versucht es wenigstens. Verstehen Sie, was ich meine? Und es tut mir leid, dass es mir nicht gelungen ist. Ich hab’s einfach nicht geschafft, das tut mir furchtbar leid.« Officer Dhomnaill wirkte ehrlich erschüttert.
    »Hat sie nicht einmal irgendwas für mich gesagt? Sie hat nämlich keinen Brief oder so hinterlassen.«
    »So verzweifelt wie Ihre Mutter war«, antwortete der Polizist, »und bei dem starken Wind dort oben auf der Brücke, da war es schwer, jedes einzelne Wort zu verstehen. Aber ich glaube, sie hat gesagt: ›Sie werden es bestimmt im Radio bringen. Egal. Es gibt nichts, wofür ich mich schämen muss.‹«
    »Okay. Na gut. Danke.«
    »Mein Job ist wirklich nicht immer ein Honiglecken«, sagte der Mann. »Ihre Mutter – sie war mein erster Springer. Manche Polizisten haben nie einen. Ich meine das wirklich nicht beleidigend. Wir Polizisten reden halt so untereinander.«
    »Ich verstehe.«
    »Es tut mir leid, was passiert ist.«
    Ich fürchte, ich habe ihm die Tür vor der Nase zugemacht.
    Später kam ein Officer Padgett, um mir das von meinem Vater zu berichten. Er klopfte, und ich ging wieder auf die Veranda hinaus. Wir schüttelten uns die Hand. »Ich weiß, dass Officer Dhomnaill vorhin da war«, sagte er.
    »Ja, er war hier.«
    »Ich spreche also mit Mr. Wyatt Hillyer, richtig?«
    »Richtig.«
    »Gut, Wyatt, ich sag Ihnen, was zu sagen ist. Ist nun mal meine Pflicht. Dann kann ich Sie wieder in Ruhe lassen und
aufs Revier zurückfahren und den Papierkram erledigen. Sie haben sicher auch genug, über das Sie in Ruhe nachdenken wollen, nicht?«
    »Okay.«
    Er blätterte in seinem Notizbuch. »Ich kam an diesem Abend um sechs Uhr fünfzehn zu der Brücke«, begann er. »Ich kletterte so nah wie möglich zu Ihrem Vater. Er sah müde aus. Für mich sah er müde aus. Er sagte: ›Es gibt da einen kleinen Scherz, den hab ich nie jemandem erzählt – nicht mal meiner Frau. Es geht darum, was ich auf meinem Grabstein stehen haben will: Ich hab’s ja gewusst, dass es so kommen wird !‹« Er sah wieder in seinen Notizen nach. »Und Ihr Vater sagte noch: ›Beide Frauen waren verdammt interessant, jede auf ihre Weise. Das ist alles. Sagen Sie meinem Sohn Wyatt, dass er mir bitte verzeihen soll. Bitten Sie ihn darum, es wenigstens
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