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Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur

Titel: Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
Autoren: Samia Shariff
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griff nach einer halben Chilischote und rieb sie mit aller Kraft auf meine Lippen. Der Schmerz war unerträglich. Meine Beine sackten unter mir weg. Als ich mich zum Wasserhahn geschleppt hatte, um das Brennen zu lindern, riss sie mich mit Gewalt von dort fort und schloss mich in meinem Zimmer ein.
    »Mama! Es tut so weh! Bitte, ich brauche Wasser«, schrie ich, so laut ich konnte.
    Verzweifelt hörte ich, wie sie irgendwo im Haus vor sich hin summte. Sie verrichtete ihre Arbeiten im Haushalt, ohnesich um mich zu kümmern. Meine Schmerzen ließen sie vollkommen kalt. Da es Winter war und Raureif die Fensterscheibe bedeckte, presste ich meine Lippen an das kühle Glas. Allmählich ließ das Brennen nach, und ich schlief ein.
    Dann kam Weihnachten, das bei den Muslimen als heidnisches Fest gilt. Trotzdem kaufen die meisten Eltern ihren Kindern Geschenke, damit kein Neid aufkommt, weil andere beschenkt werden. Da es ein gutes Jahr gewesen war, kaufte auch mein Vater Geschenke für alle. Meine Brüder erhielten eine beachtliche Zahl schöner Spielzeuge und durften Freunde nach Hause einladen.
    Ich machte die Bekanntschaft von Câlin, einem schönen, dicken braunen Bären mit runden Augen, den ich vom ersten Augenblick an vergötterte. Er war mein erstes Geschenk, und ich war glücklich. Wie Amina wäre ich meinem Vater so gerne um den Hals gefallen, aber ich beherrschte mich. In unserer Familie schickte sich das nicht für eine brave Tochter. Ein solches Verhalten hätte ihn verstimmt.
    Mit meinem Bären im Arm rannte ich zu meiner Freundin. Endlich konnte ich ihr gegenüber auftrumpfen und ihr das erste Geschenk meines Vaters zeigen.
    »Schau dir meinen Bären an, Amina! Papa hat ihn für mich gekauft! Ist er nicht schön?«
    »Ja, er ist wunderschön!«, antwortete sie und war glücklich, dass sie meine Freude teilen konnte.
    Ihr Vater hatte ihr zwei sehr hübsche schwarze Puppen geschenkt. Aber Câlin blieb das schönste Spielzeug für mich, da mein Vater ihn mir geschenkt hatte. Ich nahm meinen Bären überallhin mit, außer in die Schule. Und am Abend freute ich mich stets, ihn wiederzusehen. Er war mein Spielgefährte und mein Vertrauter.

2. Meine Jugend
    Eines Abends rief meine Mutter meine vier Brüder und mich ins Wohnzimmer. Sie eröffnete uns, dass mein Vater es in Frankreich mittlerweile zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht habe und deshalb nach Algerien zurückkehren wolle, um dort neue, vielversprechende Projekte in Angriff zu nehmen.
    »Wow! Wir werden noch reicher! Wir kehren in unsere Heimat zurück! Wir werden die Sonne und das Meer sehen! Was für ein schönes Leben liegt vor uns!«, riefen meine Brüder im Chor.
    Wie sollte ich meiner Freundin diese Neuigkeit beibringen? Am folgenden Nachmittag kam sie mit ihrer Mutter zu uns und erfuhr von unserem baldigen Umzug.
    »Wir werden uns niemals trennen, denn ich werde immer in deinem Herzen sein«, sagte sie und schloss mich in die Arme. »Immer, wenn du mit deinem Bären sprichst, wird er es meinen Puppen über jede Entfernung hinweg weitersagen, und sie werden mir alles wiederholen. Wenn du unglücklich bist, musst du es Câlin anvertrauen, und dann werde ich dir antworten.«
    Die Vorstellung, dass wir uns bald trennen mussten, machte uns beide sehr traurig. Damals war ich sieben Jahre alt.
    Eines Morgens weckte meine Mutter mich sehr früh.
    »Beeil dich mit dem Anziehen. Wir nehmen heute das Schiff. Raus aus dem Bett!«
    »Aber ich habe meiner Freundin noch nicht auf Wiedersehen gesagt!«
    »Vergiss Amina! Zieh dich an, und trink dein Glas Milch. Wir sind bereits spät dran. Reize deinen Vater nicht noch mehr!«
    Ich schlüpfte hastig in meine Kleider und trank meine Milch in einem Zug aus, da ich hoffte, mich vor unserem Aufbruch noch von Amina verabschieden zu können. Als ich zu ihr gehen wollte, hielt meine Mutter mich am Kragen fest.
    »Bleib hier, du verdorbenes Ding! Amina schläft noch. Es ist erst fünf Uhr morgens!«, schrie sie aufgebracht.
    Wieder einmal bot Câlin mir Trost. Ich musste mich damit abfinden, dass ich nicht von meiner besten Freundin Abschied nehmen konnte.
    Zuerst verließen meine Brüder das Haus. Ihnen folgte mein Vater. Meine Mutter schob mich vor sich her und wiederholte, dass ich mich beeilen solle. Sie reichte mir einen Korb und griff im selben Augenblick nach meinem Bären.
    »Ich will nicht, dass du dieses abscheuliche Ding mitschleppst. Du hast genug an dem Korb zu tragen.
    Mit diesen Worten warf sie Câlin
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