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Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur

Titel: Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samia Shariff
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Wenn ich groß bin, werde ich dich verteidigen und nicht zulassen, dass dich jemand schlägt.«
    »Du bist so lieb, Malek! Komm jetzt, sonst schimpft Mama.«
    Lachend und keuchend rannten wir durch die Gänge des Schiffes hinter den anderen her. Gemeinsam setzten wir uns an den Frühstückstisch. Gleich würden wir das Land unserer Vorfahren betreten.
    »Vorwärts! Vorwärts!«, schrie der Kapitän und winkte hektisch. An Bord unseres schönen neuen Autos rollte die ganze Familie auf algerischen Boden.
    Wir musterten die Leute unserer neuen Heimat: Sie wirkten ganz anders als die Franzosen, die wir bisher gekannt hatten. Schmutzige Kinder spielten auf den Quais, um sie herum standen Männer in Djellabas, den landesüblichen Gewändern der Muslime. Mein Bruder wollte wissen, warum die Männer lange Kleider trugen.
    »Das sind keine Kleider«, antwortete meine Mutter lächelnd. »Die Männer tragen diese Gewänder, weil das bei der Hitze sehr angenehm ist.«
    Mein Erstaunen wurde noch größer, als ich eine Frau sah, die mit einem weißen Tuch verhüllt war, das ihr ganzes Gesicht bedeckte und nur die Augen freiließ.
    »Ist das ein Gespenst?«, wollte ich verängstigt wissen.
    »Aber nein, du Närrin! Jede gute Muslimin kleidet sich auf diese Weise, in ein paar Jahren auch du!«
    Um Zustimmung heischend sah sie zu meinem Vater hinüber. Er warf mir im Rückspiegel einen Blick zu.
    Ich erinnere mich daran, dass ich in genau diesem Augenblick beschloss, mich niemals wie diese Frau zu kleiden, auch wenn das jede gute Muslimin tat.
    Je weiter wir in die Stadt hineinfuhren, desto mehr wuchs meine Angst. Überall war es schmutzig, außerdem herrschte eine drückende Hitze. Die Leute um uns herum sprachen Arabisch. In den Straßen wimmelte es von guten Musliminnen , von Männern in langen Gewändern und von Kindern, die, auch wenn sie noch sehr klein waren, mitten auf den Straßen spielten. Sie ließen Kreisel tanzen oder warfen sich zwischen den vorüberfahrenden Autos Bälle zu.
    Von Eseln gezogene Fuhrwerke beförderten Obst und Gemüse. Da Kamel noch nie zuvor einen Esel gesehen hatte, begann er zu weinen. Ich beruhigte ihn und streichelte seine Wange. Dabei erklärte ich ihm, dass der Esel ein sanftmütiges Tier sei und dem Pferd ähnele. Wir setzten unsere Fahrt fort, und die Umgebung veränderte sich. Die Straßen wurden breiter, der Verkehr ließ nach, und es wurde schattiger. Wir hatten das Zentrum von Algier hinter uns gelassen und die Vororte erreicht.
    Eine winzige Straße führte zu unserem Haus, das ich riesengroß und prachtvoll fand. Etwas Vergleichbares hatte ich bisher nur im Fernsehen gesehen. Meine Brüder und ich waren furchtbar aufgeregt. Mit strahlenden Augen und freudig geröteten Wangen rannten wir in den Garten und um das wundervolle Haus herum.
    Nachdem wir uns ausgetobt hatten, betraten wir unser Schloss. Es war überwältigend! Jedes Zimmer war riesengroß und strahlend hell, was durch die weißen Wändenoch verstärkt wurde. Noch nie hatte ich so lichtdurchflutete Räume gesehen. Meine Brüder rannten durch das Haus, um sich ihre Zimmer auszusuchen. Ich folgte ihrem Beispiel, und meine Wahl fiel auf einen Raum, den ich besonders hübsch fand.
    »Das ist mein Zimmer!«, rief ich so laut, dass alle mich hören mussten.
    Mein Bruder Nassim erhob Einspruch.
    »Nein, das will ich haben! Dieses Zimmer ist schön groß, da könnte ich gut meine elektrische Eisenbahn aufbauen.«
    »Nein, ich will es! Ich habe es zuerst gesehen«, beharrte ich.
    Schon gerieten wir uns in die Haare. Meine Mutter eilte herbei und griff ein.
    »Hört auf zu streiten«, unterbrach sie uns, schob mich beiseite und schloss meinen Bruder in die Arme. »Mein Liebling, du wirst das Zimmer bekommen und dort deine schöne elektrische Eisenbahn aufbauen. Samia, du nimmst das Zimmer am Ende des Ganges neben dem von deinem kleinen Bruder Kamel. Dann hörst du, wenn er weint, und kannst ihn trösten.«
    Als ich mich ins Bett legte, wurde mir klar, dass mein Zimmer das kleinste im ganzen Haus war. Das ärgerte mich, doch meine Wut verging rasch, als mir einfiel, dass ich ja gar nichts hatte, um das Zimmer einzurichten, nicht einmal meinen Bären. Ich war allein mit meinen Erinnerungen in diesem riesigen Haus.
    Die Nacht war tiefschwarz, und als ich mich so allein in meinem Bett zusammenkauerte, erschrak ich vor der Finsternis. Das neue Haus flößte mir jetzt Angst ein. Also zog ich die Decke über den Kopf und versuchte, an etwas

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