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Der Schimmer des Ledger Kale

Der Schimmer des Ledger Kale

Titel: Der Schimmer des Ledger Kale
Autoren: Ingrid Law
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unsere Reise gepackt hatten. »Bist du jetzt enttäuscht?«
    »Schon okay, Dad«, erwiderte ich achselzuckend, denn als ich an meinen letzten Lauf von Sundance zum Fliegenden Ochsenauge zurückdachte, wusste ich, dass ich das Rennen meines Lebens schon gelaufen war.
    »Nächstes Jahr klappt’s ganz bestimmt.« Dad fuhr mir durch meine Zottelmähne. Dann fügte er hinzu: »Wenn du dann noch willst – und nicht zu sehr damit beschäftigt bist, Zuschauertribünen in Boote oder Stechuhren in Tyrannosaurier zu verwandeln. Ich wollte dir nie meine eigenen Träume aufzwängen, mein Sohn.« Er lächelte und hob die Faust. Nach kurzem Zögern schlug ich mit meiner dagegen, und als Dad seinen anderen Arm um mich legte und mich fest an sich zog, traten mir Tränen in die Augen.
    Der Oktober hatte die Blätter der Birken golden eingefärbt und sich mit dem Herbstwind zusammengetan, um die Waldwiese auf dem Fliegenden Ochsenauge mit einem Teppich zu überziehen. Kleine Wölkchen schwebten herdenweise über den weiten Himmel von Wyoming, als flögen Geisterbüffel über unsere Köpfe hinweg.
    Ich hielt während der Beerdigung Fedoras Hand fest in meiner. Einmal ließ ich sie sogar ihre Nase an meinem Ärmel abwischen. Fe trug keinen Helm mehr – seit dem Tag, an dem Mr Cabot versucht hatte, das Insektenhaus zu zerstören. Und sie schwang auch nicht mehr dauernd ihre Sicherheitsparolen. Ihre Lehrerin in der zweiten Klasse mochte ja einen Sicherheitsfimmel gehabt haben, aber die in der dritten Klasse war total vernarrt in Physikexperimente. Jetzt stellte Fe mit Hilfe von Essig und Backpulver Vulkanausbrüche nach, verwandelte Kartoffeln in Batterien und spielte mit Magneten – auch wenn der zerbrochene Wolpertinger aus Willies Schnäppchenmarkt noch immer ihr liebster war.
    Bei der Beerdigung stand Großtante Jules in unserer Nähe und flüsterte Tante Jenny hinter einem durchnässten Spitzentaschentuch zu: »Der junge Ledger hat also doch noch Talent bewiesen, wenn ich das mal so sagen darf! Hübsch, diese Bäume, die er da zum Schutz um Autrys Insektenhaus gebaut hat. Bäume wie diese wachsen nämlich nicht jeden Tag, musst du wissen. Der Junge ist ein Künstler!« Doch als ihr Blick auf Gypsy fiel, schnalzte sie zweimal abfällig mit der Zunge und schüttelte den Kopf, dann fügte sie hinzu: »Stimmt es, dass an Gypsys Geburtstag nichts passiert ist, Jenny, Liebes?«
    Tante Jenny lächelte und ignorierte Großtante Jules, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ich musste ebenfalls grinsen. Nach dem, was ich gehört hatte, war an oder seit Gypsys Geburtstag vor einigen Wochen tatsächlich nichts weiter passiert – nichts außer einem Besuch beim Augenarzt, der ihr eine funkelnagelneue lila Brille verpasst hatte, nachdem ein Test ergab, dass sie blind wie ein Maulwurf war.
    Tante Jules hatte gesagt, ich sei ein Künstler. Aber sie war nicht die Erste gewesen, die das erkannt hatte. Irgendwie hatte ich den Verdacht, dass in der verschwommenen Schimmerzukunft von Gypsy Beaumont noch so manche Überraschung lauerte.
    Gypsy ging, barfuß wie immer, mit dem Erdnussbutterglas im Arm nach vorn, das mich den ganzen Sommer hindurch in Atem gehalten hatte. Auf ein Nicken von Tante Jenny hin entfernte sie den Deckel vollständig von dem Glas. Ich hätte fast aufgeschrien, als Gypsy die Musik entweichen ließ, die jahrelang in diesem letzten Einmachglas von Oma Dollop eingefangen gewesen war. Aber alle hatten zugestimmt, sie herauszulassen … für Opa.
    Als Opas Leichnam ins Grab hinabgelassen wurde, schossen rund um die Ranch riesige Erdfontänen gen Himmel. Felsbrocken sprangen in die Luft wie Popcorn. Erdspalten und Schluchten taten sich auf und schlossen sich blitzschnell wieder. Das Wasser im Fluss tanzte und schwappte über, weil die Ufer sich anhoben und ein weiteres Mal ihren Lauf änderten … und das alles, während die Trompete aus Omas Glas Opa Bomba ein letztes Ständchen brachte.
    Nach der Beerdigung versammelten sich alle im Haus – die O’Connells, die Beaumonts, die Kales und noch andere –, um Opas Leben mit allen Geschichten, die noch in den Köpfen waren, und auch mit einigen frei erfundenen noch einmal zu feiern.
    Marisol und Mesquite sorgten dafür, dass alle satt wurden, indem sie Buttersemmeln, Zitronenkuchen und kleine geräucherte Sojawürstchen über den Köpfen der Leute schweben ließen und sie ihnen bei Bedarf auf die Teller legten – ein Leichenschmaus, der Stück für Stück vom Himmel fiel.
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