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Der Roman eines Konträrsexuellen

Der Roman eines Konträrsexuellen

Titel: Der Roman eines Konträrsexuellen
Autoren: Emile Zola
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unterbrochenen Linie gekreuzt. Die Dame hat mir diese Linien erklärt, doch ich fürchte auf recht phantasievolle und deutsche Art.
    Ich habe die Schönheit meiner Hände und meines Gesichts von meiner Großmutter väterlicherseits geerbt, die sehr schön war und deren Arme und Hände so herrlich waren, daß Canova selbst ihr eines Tages Komplimente darüber machte. Man behauptet, sie sei die Mätresse – wehe, wenn man erfährt, daß ich das geschrieben habe - von ... [Fußnote: Anmerkung Dr. Laupts: Hier folgt der Name eines Königs.] gewesen, der sonst für unsere Familie nichts getan hat und dem wir vielleicht nur die Form unserer Lippen und unseres Kinns verdanken.
    Mein Großvater war in der Ehe unglücklich und starb noch jung, infolge des Kummers, den ihm seine Frau verursachte, die ihn übrigens nicht lange überlebte; sie starb vor meiner Geburt. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, sind meine Brüder sehr kräftig und wohlgebaut, der älteste ist strahlend schön, er ähnelt meinem Vater, vielleicht ist er nicht ganz so schön wie dieser. Die beiden anderen sind nicht schön, besonders der dritte ähnelt der Familie meiner Mutter, die mir verhaßt ist. Alle sind viel größer und stärker als ich und in sehr kurzem Abstand von einander geboren. Ich bin zehn Jahre nach dem letzten zur Welt gekommen, und zwar nach einer schrecklichen Krankheit meiner Mutter, die sie dem Tode nahe brachte, ich glaube, es war ein bösartiges Fieber. Alle Kinder meiner Brüder sind hübsch, stark und wohlgebaut. Es war auch ein kleines Mädchen darunter, das mir, wie man meinte, erstaunlich ähnelte; sie ist 18 Monate nach ihrer Geburt innerhalb weniger Stunden gestorben, ohne daß irgendein Symptom eines nahen Todes vorausgegangen wäre. Ich hoffe, auch einmal auf diese Weise zu sterben.
    Ich bin ansonsten vollkommen wohlgebaut, besitze eine beachtliche Nervenkraft, ein nicht geringes Temperament und Lebhaftigkeit. Manchmal verfalle ich in großen Stumpfsinn, doch erwache ich daraus mit außerordentlicher Freude und einer heftigen Lachlust. Ich schone dann niemanden und werde durch meine Reden, meine Schmeicheleien und Liebenswürdigkeiten, mit denen ich meine Umgebung überschütte, der Liebling aller. Mit einem Mal werde ich schweigsam und traurig, und alle Welt wundert sich über diese plötzlichen und ihrer Ansicht nach grundlosen Veränderungen. Der Ausdruck meines Gesichts, dessen Oberlippe von der Nase durch eine ganz kleine Krümmung getrennt ist, verändert sich wie die Farben des Meeres an einem stürmischen Tage. Die Augen sind fast immer melancholisch und unter ihren langen Wimpern verborgen, man sieht sie kaum. Ihre Farbe ist nicht bestimmbar, sie sind abwechselnd blau, grau oder grün, oft werden sie auch violett.
    Man sagt mir, ich hätte eine arrogante und spöttische Miene. In Wahrheit nehme ich oft diesen Ausdruck an, um meine Ängstlichkeit und Verlegenheit vor der Welt zu verbergen, die ich mir auf diese Weise vom Leibe halte.
    Ich glaube, es gibt auf der Welt wenige Menschen, die so egoistisch sind wie ich. Für eine meiner Vergnügungen würde ich die ganze Welt opfern, und nur in meinen plötzlichen Leidenschaften verstehe ich, was es heißt, einem anderen ein Opfer zu bringen.
    In meiner Familie, die mich stets verwöhnt hat, wundert man sich über meine Kälte, und nennt man mich deswegen oft undankbar. Das hat meinen Vater oft gequält, der mir gegenüber sehr schwach ist und selbst bei ungünstigen Umständen meinen Wünsche und Launen, so außergewöhnlich und nutzlos sie auch waren, nicht widerstehen konnte.
    In Wahrheit habe ich nur wenig Zuneigung für sie, und ich habe ihnen das auch in Stunden schlechter Laune gesagt. Den Grund erraten Sie zweifellos. Ich betrachte sie als die – allerdings unschuldige – Ursache meiner verderbten und außergewöhnlichen Natur und kann ihnen nicht verzeihen, mich so geschaffen zu haben.
    Ich hege einen schrecklichen Groll gegen sie, doch ich versuche jetzt, dieses schlechte Gefühl loszuwerden, und bemühe mich, ihnen eine große Freundschaft zu bezeugen, die ich manchmal auch wirklich empfinde, wenn ich an all ihre Liebe für mich denke. Ich würde sterben, wenn sie von dem, was ich empfinde und tue, etwas erfahren oder ahnen würden.
    Oft haben sie mich grausam verletzt, wenn sie mich wegen meiner vermuteten Abenteuer und wegen der Liebe, die die Damen für mich hegen, aufzogen. Ich habe sie in solchen Augenblicken gehaßt und ihnen in einer sehr harten
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