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Der Roman eines Konträrsexuellen

Der Roman eines Konträrsexuellen

Titel: Der Roman eines Konträrsexuellen
Autoren: Emile Zola
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Jungen geboren sein läßt! Und das sind alltägliche Tatsachen. Die Unsicherheit kann einfach mit dem physischen Gesamt-Habitus beginnen, den großen Linien des Charakters: der weibische, zarte, feige Mann; das maskuline, gewalttätige, jede Weichheit entbehrende Weib. Und sie geht bis zu der erwiesenen Monstrosität, dem Hermaphroditismus der Organe, bis zu den widernatürlichen Gefühlen und Liebesempfindungen. Gewiß, die Moral und die Justiz haben Recht einzuschreiten, da sie die Hüter der öffentlichen Ordnung sind. Aber mit welchem Rechte, wenn doch der Wille teilweise aufgehoben ist? Man verurteilt nicht einen von Geburt an Buckligen, weil er bucklig ist. Warum einen Mann verachten, der als Weib handelt, wenn er als halbes Weib geboren wurde?
    Selbstverständlich, mein lieber Doktor, liegt es nicht in meiner Absicht, das Problem auch nur aufzustellen. Ich begnüge mich damit, die Gründe dafür anzugeben, die mir die Veröffentlichung des »Romans eines Homosexuellen« wünschenswert gemacht haben. Vielleicht wird dies ein wenig Mitleid für gewisse Bejammernswerte einflößen und ein wenig Billigkeit. Und ferner, alles was das Sexuelle betrifft, betrifft das soziale Leben selbst. Ein Invertierter ist ein Zerstörer der Familie, der Nation, der Menschheit. Mann und Weib sind sicherlich nur deswegen hienieden, um Kinder zu zeugen, und sie töten das Leben an dem Tage, wo sie nicht mehr das tun, was notwendig ist, um solche zu zeugen.
    In herzlicher Freundschaft
    Medan, 25. Juni 1895
    Emile Zola

[Erstes Dokument]
Herrn Emile Zola, Paris
    Ihnen, verehrter Herr, der Sie der größte Romanschriftsteller unserer Zeit sind, der Sie mit dem Auge des Gelehrten und des Künstlers alle Verkehrtheiten, alle Schändlichkeiten, alle Krankheiten, die die Menschheit betrüben, so machtvoll ergreifen und schildern, Ihnen sende ich diese menschlichen Dokumente, die von den Gelehrten unserer Zeit so gesucht sind.
    Diese Beichte, die kein Beichtvater je aus meinem Munde erfahren hat, wird Ihnen eine schreckliche Krankheit der Seele enthüllen, einen seltenen – wenn nicht unglückseligerweise einzig dastehenden Fall –, der wohl von psychologischen Gelehrten studiert worden ist, den aber noch kein Romanschriftsteller in einem literarischen Werk in Szene zu setzen gewagt hat. Balzac hat »La Belle aux yeux d'or« (»Die Schöne mit den Goldaugen«) geschrieben, doch er hat das schreckliche Laster, das das Pendant zu dieser Geschichte bildet, nur gestreift: Sarrasine liebt Zambinella wirklich, doch er hält ihn für ein Weib und hört auf, ihn zu lieben, nachdem er die Wahrheit entdeckt hat. Es ist also nicht der schreckliche Fall, von dem ich Ihnen heute erzählen will.
    Sie selbst, verehrter Herr, haben in Ihrem wunderbaren Buch »La Curée« (»Die Beute«) in der Person des Baptiste eines der schrecklichsten Laster, die die Menschheit entehren, nur gestreift. Jener Mensch ist ehrlos, denn die Ausschweifung, der er sich ergibt, hat nichts zu tun mit Liebe und ist etwas absolut Materielles, eine Frage der organischen Bildung, die die Ärzte mehr als einmal beobachtet und beschrieben haben. Das alles ist sehr gewöhnlich und sehr widerwärtig und hat nichts mit der Beichte zu schaffen, die ich Ihnen schicke und die Ihnen vielleicht in irgendeiner Weise nützlich sein kann.

I. Vorfahren – Frühe Kindheit
    Ich bin kein Franzose, wenn ich auch die bedeutendsten Städte Frankreichs kenne und sogar einige Zeit in Paris gelebt habe. Ich schreibe Ihnen wahrscheinlich sehr inkorrekt; es ist schon lange her, daß ich diese Sprache gesprochen oder in ihr geschrieben habe. Bitte entschuldigen Sie daher die Ungenauigkeiten und Fehler, von denen diese Seiten wimmeln werden.
    Ich weiß nicht, ob Sie Italienisch können; hätte ich Ihnen in dieser Sprache schreiben können, würde ich mich gewiß besser ausgedrückt haben. Ich kümmere mich hier gar nicht um den Stil, sondern will Ihnen nur einfach sagen, was Sie interessieren mag. In diesen schlechtgeschriebenen Zeilen werden Sie mit Ihrem Adlerblick und Ihrem Künstlerherzen die Wunde einer Seele entdecken, die ein schreckliches Verhängnis zu verfolgen scheint, die sich vor sich selbst schämt und die gewiß erst Frieden und Glück finden wird, wenn sie in dieser Erde schlummert, die Sie so wunderbar geschildert haben.
    Ich bin 23 Jahre alt, mein Herr, meine Familie ist eine hochgestellte, und ich befinde mich in ziemlich unabhängiger Vermögenslage. Von dieser Seite aus bleibt mir
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