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Der Roman eines Konträrsexuellen

Der Roman eines Konträrsexuellen

Titel: Der Roman eines Konträrsexuellen
Autoren: Emile Zola
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unglücklichen Frauen in Pelz und Hermelin.
    Im Unterricht machte ich rasche Fortschritte und setzte selbst meine Lehrer in Erstaunen, wie schnell ich Dinge begriff und lernte.
    Ich war damals übrigens noch völlig unschuldig und merkte überhaupt nichts. Mit meiner Gouvernante besuchte ich oft Museen und begeisterte mich trotz meiner Jugend für die Kunstwerke, zu denen ich mich sehr hingezogen fühlte. Der Anblick eines großen Kunstwerks bewegte mich heftig, und die mythologischen Geschichten, die man mir vor den großen Kunstwerken beibrachte, erfüllten mich mit großer Leidenschaft. Ich träumte nur noch von Heroen, Göttern und Göttinnen. Besonders großen Eindruck machte auf mich der Trojanische Krieg, dabei galten aber meine Gedanken und meine ganze Begeisterung mehr den Helden als den Heldinnen – eine seltsame Sache, die mir erst sehr viel später bewußt wurde.
    Ich bewunderte Helena, Venus und Andromache sehr, aber meine große Liebe und meine große Verehrung galten Hektor, Achill und Paris – vor allem dem ersteren. Ich begeisterte mich richtig für ihn und gefiel mir darin, mir vorzustellen, ich sei Andromache, um so den Helden in seinem eisernen Panzer in meinen Armen halten zu können. Und stundenlang mußte ich an seine athletische Gestalt, die schönen nackten Arme und den hohen Helm denken. Ich erinnere mich noch gut an die süßen Empfindungen während dieser Stunden in den langen Fluren der Museen, wo ich so viele schöne Heroen und nackte Götter sah, die ich in meiner Phantasie lebendig werden ließ. Viele Stunden war ich in Gedanken versunken über das Glück dieser marmornen Welt, die so vollendet und so jenseits aller Wirklichkeit war, und ich konnte mir meine Gefühle gar nicht recht erklären.
    Ich liebte schon damals die Einsamkeit, die Spiele der anderen Jungen erschreckten mich. Meine Brüder waren schon zu groß, um sich mit mir zu befassen, auch waren sie nur sehr selten zu Hause. Ich empfand nur wenig Sympathie für sie. Mein ältester Bruder war sehr schön, die beiden anderen weniger, vor allem der dritte, der mit seinen kurzen Beinen und langen Armen ganz nach der Familie meiner Mutter geraten ist – einer Familie, die, Gott sei Dank, weit von uns entfernt wohnt und die ich überhaupt nicht mag.
    Meine Brüder sind alle gut verheiratet, haben ihre Familie und sind sehr glücklich, vor allem die beiden ältesten. Ich bin allein im väterlichen Haus zurückgeblieben, was ich kaum bedaure.
    Ich setzte meine Studien fort, aber auf sehr unregelmäßige Art und Weise. Ich lernte mehrere Sprachen und verschlang alle literarischen Werke, und dabei begeisterte ich mich besonders für alles, was schön und vor allem poetisch war. Die Dichtung hatte einen großen Einfluß auf mich; der Rhythmus der Verse verursachte mir wahre Schauer, und ich lernte lange Monologe und ganze Szenen meiner Lieblingstragödien auswendig. Auch die Musik gefiel mir außerordentlich. Schöne Verse und schöne Musik entzückten mich gleichermaßen. Ich lebte wahrhaftig in einer idealen Welt, wie sie ein Kind von zehn Jahren wohl noch nie erträumt hat. Ich begeisterte mich stets für die schönen Heldinnen aus Geschichte und Dichtung und liebte sie wie Freundinnen, denn eine Frau war für mich ein besonderes, zauberhaftes Wesen, so weit von der Wirklichkeit entfernt, daß ich sie fast zur Gottheit werden ließ.
    Die größte Inbrunst brachte ich damals der Jungfrau Maria entgegen, die für mich der Inbegriff aller Frauen war. Es verlockte mich, an ihrer göttlichen Natur teilzuhaben, und mehrere Monate hindurch übte ich mich in einer übertriebenen Verehrung, die umso ungewöhnlicher war, als bei uns zu Hause alle religiösen Praktiken abgeschafft waren und sich niemand darum kümmerte. Meine Mutter hatte von ihrer früheren Religion nur den Haß auf alle Kirchen und allen religiösen Pomp behalten, und es war gerade dieser Pomp, der mich entzückte.
    Damals änderte sich mein Geschmack. Statt an Helena, den Göttinnen und Heroen fand ich jetzt Gefallen an der Gemeinschaft der Heiligen, Jungfrauen und Märtyrer. Die Wände meines Zimmers waren mit kleinen Bildern von Heiligen und Engeln geschmückt, vor denen ich fast zu jeder Stunde meine Gebete verrichtete. Mitten in den Unterrichtsstunden bat ich darum, wegen eines dringenden Bedürfnisses hinausgehen zu dürfen, und lief dann in mein Zimmer, um vor der liebreichen Madonna zu beten, die für mich wie eine Schwester, wie eine Freundin war.
    Die Phase der
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