Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Riss

Der Riss

Titel: Der Riss
Autoren: Scott Westerfeld
Vom Netzwerk:
verstummte, plötzlich verstärkte sich sein Griff. „Da kommt was.“
    „Wie meinst du …?“, hob sie an, aber dann spürte sie es auch und schloss die Augen sofort wieder.
    Ein Geschmack kam über die Wüste auf sie zugedonnert, weit und uralt und bitter, überschlug sich wie eine tosende Welle. Je näher er kam, desto stärker wurde er, wie eine Lawine, die immer mehr Schnee vom Berg mitnahm und alles unter sich begrub.
    Dann war er da, fuhr durch die Sporthalle und fegte alle kleinlichen Energien der Footballshow fort, löschte den Gedankenlärm von Bixby aus, der von den Wänden triefte. Er saugte alles auf. Nur Melissas Verbindung zu Rex blieb bestehen, sein Schock und seine Unruhe hallten in ihr wider wie das Echo eines Gewehrfeuers.
    Sie schlug die Augen auf und sah, was geschehen war. Das blaue Licht, die reglosen Körper, ein Cheerleader-Mädchen mitten im Sprung in der Luft erstarrt. Die ganze Welt war erfasst von …
    Stille.
    Melissa sah erstaunt auf ihre Uhr. Es war erst kurz nach neun Uhr morgens.
    Die blaue Zeit war trotzdem da.

blauer montag
    9.03 Uhr morgens
3
    Mitternachtsschwerelosigkeit floss in Jessica hinein.
    Sie umklammerte Jonathans Hand fester. „Was soll denn
    …?“ Ihre Stimme verhallte in der plötzlichen und überwältigenden Stille, ihr Herz pochte, als ihre Augen über die erstarrte Eröffnungsfeier schweiften.
    Alles war blau.
    Die glänzenden Lycratrikots des Footballteams, das Stadtwappen von Bixby in der Mitte des Basketballfeldes, die reglosen Tentakel der hochgeschwenkten Pompoms – alles hatte die Farbe der Midnight angenommen. Und alles war vollkommen still.
    „Jonathan?“ Jessica sah zu seinem Gesicht auf, in der Hoffnung, dort einen Schimmer von Verstehen zu entdecken. Vielleicht war all das schon einmal in Bixby passiert, ein verrückter Schluckauf der blauen Zeit, und Rex hatte einfach nur vergessen, ihr davon zu erzählen.
    Jonathan antwortete nicht. Seine Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.
    „Da ist was durcheinander“, bestätigte Dess mit ruhiger Stimme.

    Jessica klammerte sich am Rand der Tribünenbank fest, auf der sie saß, um die raue Wirklichkeit des Holzes zu spüren.
    Das hier war kein Traum – das war die blaue Zeit.
    Ihre Augen entdeckten Bewegung am anderen Ende der Sporthalle. Rex und Melissa erhoben sich langsam, unter all den erstarrten menschlichen Gestalten sahen sie seltsam isoliert aus.
    Plötzlich aus seiner Erstarrung erwacht, stieß Jonathan einen Schrei aus und sprang auf. Jessica klammerte sich instinktiv an seine Hand, und als er vom Boden abhob, zog er sie sanft hinter sich her in die Luft – beide waren federleicht.
    „Jonathan!“
    „Was ist denn los?“ Seine Stimme verhallte, als sie von der Mitternachtsschwerelosigkeit unweigerlich hoch über die Menge getragen wurden, wo sie wie zwei Ballons an einer Leine umeinanderkreisten. „Ist das wirklich …?“
    „Ja, das passiert wirklich“, stieß Jessica hervor und packte seine Hand noch fester. Der Boden sah aus, als ob er meilenweit unter ihnen liegen würde, und plötzlich sah sie ein Bild aus dem Sportunterricht vor Augen: Sie hing beim Klettern oben an einem dicken Seil mit Knoten und blickte nach unten, angsterfüllt, weil sie runterfallen könnte.
    Als sie die Spitze ihres Fluges erreicht hatten und wieder zu sinken begannen, setzten die Reflexe nach zahllosen gemeinsamen Flugstunden ein. Jonathan steuerte ihrer Drehbewegung entgegen, und als sie wieder auf dem Boden der Sporthalle landeten, direkt auf dem Stadtwappen von Bixby, als ob sie es geplant hätten – beugte Jessica die Knie, um sanft zu landen.
    Sie sah wieder zu den Tribünen auf und schluckte. Die reglose Menge starrte direkt auf sie und Jonathan. Das erinnerte Jessica an jenen wiederkehrenden Albtraum, den sie am wenigsten ertrug: Sie spielte in einem Stück, das sie nicht geprobt hatte, und das reglose Publikum wartete auf ihren ersten Satz.
    Es war niederschmetternd, so viele Leute zu sehen, die von der Midnight erfasst worden waren. Ihre Gesichter waren wächsern und blass, ihre Augen leblos, sie sahen aus wie eine Armee Plastikpuppen. „So viele Starre hab ich noch nie gesehen.“ Melissas leise Worte wurden über den Sportplatz getragen, wie ein Echo von Jessicas Gedanken.
    „Raus, schnell!“, rief Rex. Er rannte an der Tribüne entlang, über die erstarrten Körper setzte er wie über Hürden hinweg.
    Dess und Melissa folgten ihm auf das Tor zum Parkplatz zu.
    Jessica sah Jonathan an,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher