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Der Riss

Der Riss

Titel: Der Riss
Autoren: Scott Westerfeld
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„Nun, davon steht nichts in der Lehre.“
    Seine Stimme blieb ruhig. „Ich weiß also nicht, warum ihr mich danach fragt.“
    Vorerst sagte niemand etwas, seine Worte hatten sie verblüfft. Jessica fiel auf, dass ihr Mund offen stand. Das tat man schließlich immer, wenn seltsame Dinge geschahen: Man fragte Rex, was los war.
    Mit kühlen Seheraugen erwiderte er ihre Blicke, dann lächelte er, ein Punkt für ihn. „Okay, jetzt beruhigt euch alle erst mal und macht Melissa Platz im Kopf.“ Er wandte sich an die Gedankenleserin. „Kannst du Madeleine spüren?“
    „Nein, sie bleibt in ihrem Versteck. Ich wette aber, dass sie genauso entsetzt ist wie wir alle.“
    „Wie steht’s mit den Darklingen? Sind sie wach?“
    Melissa stand eine Weile schweigend da. Mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf ließ sie ihren Geist über die Wüste schweifen.
    Jessica sah einen nach dem anderen an. Sie waren schon eine Weile nicht mehr alle fünf zusammen gewesen. Vermutlich seit jener Nacht in der Salzebene, als alles aus dem Ruder gelaufen war – Rex gekidnapped, Melissa durch die Windschutzscheibe geflogen, und Dess …
    Dess hatte es anscheinend am schlimmsten erwischt. Sie aß seit Neustem mittags mit Jessica oder Jonathan – niemals mit Rex und Melissa. Sie hatte der Gedankenleserin nicht verziehen, dass sie in jener Nacht ihre Gedanken geplündert hatte.

    Jessica machte ihr allerdings keinen Vorwurf daraus. Rex auch nicht, der wegen seiner Verwandlung in einen Halbling ausgeflippt war. Und an den Narben in Melissas Gesicht sah man immer noch rosa Stiche.
    Alle schienen jedoch vergessen zu haben, dass Anathea, die junge Seherin, die in den alten Zeiten in einen Halbling verwandelt worden war, in jener Nacht gestorben war. Und das war viel schlimmer als das, was mit ihnen allen passiert war.
    Manchmal, wenn Jessica beobachtete, wie die anderen Midnighter miteinander umgingen, kam sie sich vor, als ob sie ein T-Shirt anhätte, auf dem in Druckbuchstaben stand: VERGISS
    ES.
    „Doch, sie sind wach“, sagte Melissa bedächtig. „Mich wundert, dass ihr sie nicht alle hören könnt.“
    „Hören?“ Rex warf einen Blick über seine Schulter in Richtung Badlands. „Meinst du damit, sie kommen hierher?“
    Jessica griff in ihre Tasche, auf der Suche nach Desintegrator, fand aber nichts. Nie hätte sie gedacht, dass sie tagsüber eine Taschenlampe brauchen könnte. Sie hatte nur Acariciandote, das Armband, das Jonathan ihr geschenkt hatte. Sie griff danach und berührte die dreizehn kleinen Glücksbringer, die an ihrem Handgelenk baumelten.
    Melissa schüttelte den Kopf. „Sie kommen nicht, bewegen sich kaum. Sind einfach so laut.“ Sie krümmte sich, ihr Gesicht nahm den gequälten Ausdruck an, den es immer bekam, wenn zu viele Leute um sie herum waren.
    „Melissa“, fragte Rex, „was meinst du mit ,laut‘?“
    „Damit meine ich, dass sie schreien, jaulen, Rabatz machen.“ „Als ob sie Angst hätten?“
    Melissa schüttelte den Kopf. „Nein. Als ob sie feiern würden.“

    Auf Jessicas Uhr war es 9.17 Uhr, obwohl es schien, als hätte die blaue Zeit vor Stunden begonnen. Die Minuten schienen sich hinzuschleppen, als ob aus Zeit an sich etwas Formloses, Humpelndes geworden wäre.
    Wie konnte sie eigentlich sicher sein, dass ihre Uhr richtig ging? Es kam ihr so vor, als ob sie seit Stunden hier draußen auf dem Parkplatz stehen würden.
    „Geh da runter!“, brüllte Rex.
    Jessica sah auf und seufzte. Jonathan stand immer noch auf dem Dach der Schule.
    „Ich dachte, du hättest gesagt, dass das hier ewig dauern könnte“, rief er nach unten.
    „Genau, oder jede Sekunde aufhören!“
    „Nee, Midnight gibt’s immer nur in Stundenetappen, Rex.
    Das weißt du.“ Jonathan lachte und begab sich mit einem eleganten Satz auf das Dach der Sporthalle. Von da aus ließ er den Blick über den Horizont schweifen, als ob die Skyline von Bixby verraten würde, was vor sich ging.
    Jessica sah, wie hoch er war, und schluckte. Sie wusste aber, dass es keinen Zweck hatte, Jonathan anzubrüllen. Er flog immer bis zur letzten Sekunde der Midnight, nutzte jede Sekunde Schwerelosigkeit aus. Er hatte nicht lange dazu gebraucht, um sich einzureden, dass diese unerwartete blaue Zeit mindestens eine ganze Stunde lang dauern würde. Für Jonathan gab es hier kein entsetzliches Mysterium zu enträtseln – für ihn war das eine doppelte Portion Nachtisch, eine Zusatzerholung, eine Pause, die den ansonsten beschissenen Montag
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